Vergeltung
E-Mail-Programm, um Stacey eine Nachricht zu schicken.
»Ich weiß das, was sie mir über sich erzählt hat. Wie viel davon der Wahrheit entspricht, kann ich nicht sagen. Alle erfinden Sachen dazu. Gutes und Schlechtes. Was auch immer sie gerade brauchen, um sich ein bisschen besser zu fühlen.«
»Was hat Kerry Ihnen erzählt?« Paula mochte es durchaus, ein bisschen zu tratschen und zu fachsimpeln, aber im Moment interessierte sie nur Kerry Fletcher.
»Also gut, sie ist ein Mädchen von hier. Ich glaube, dass zumindest das der Wahrheit entspricht, denn sie hat einen breiten Bradfielder Akzent. Sie ist in der Toxteth Road aufgewachsen, hinter den Hochhäusern in Skenby.«
Paula nickte. Sie kannte die Toxteth Road. Die Cops von dort sagten, dass da sogar die Hunde in Straßenbanden auftraten. Es lag auch in dem Einzugsgebiet, das Stacey anhand der Nummernschilder identifiziert hatte. »Trostlose Gegend«, sagte sie.
»Genau. Als sie fünf oder sechs war, zogen sie in eine Mietwohnung im sechzehnten Stock. Von da an ging es mit ihrer Mutter bergab. Vom Tage des Einzugs an verließ sie nie wieder die Wohnung. Kerry ist sich nicht sicher, ob es Klaustrophobie oder Straßenangst oder die Angst vor Eric, dem Vater, war. Was immer es war, sie wurde zur Gefangenen in ihrer eigenen Wohnung.« Sergeant Dean legte eine effektvolle Pause ein. Es war klar, dass sie ihre Geschichten gerne erzählte.
»Und das machte sie zum perfekten Faustpfand für Eric Fletcher«, fuhr Dean fort. »Er begann, Kerry sexuell zu missbrauchen, als sie ungefähr acht Jahre alt war. Wenn sie nicht genau das tat, was von ihr verlangt wurde, dann musste ihre Mutter dafür bezahlen. Eric schlug sie oder schob sie einfach auf den Balkon hinaus und ließ sie dort, bis sie nur noch ein zitterndes Wrack war. Und die kleine Kerry liebte ihre Mutter.«
Paula seufzte. Sie hatte schon so oft Variationen dieser Geschichte gehört, doch es war immer wieder so schlimm wie beim ersten Mal. Geradezu zwanghaft musste sie daran denken, wie es sich wohl anfühlte, so machtlos zu sein. Da das Kind jeder anderen Erfahrung beraubt war, stellte dies das einzige Beispiel für Liebe dar. Wenn das alles war, was man kannte, wie konnte man dann glauben, dass etwas anderes möglich war? Die Beziehungen, die man im Fernsehen sah, mussten einem so phantastisch vorkommen wie Hogwarts. »Natürlich liebte sie ihre Mutter«, sagte Paula. »Warum auch nicht? Doch irgendwann hat sie gelernt, sie zu verachten.«
Dean wirkte leicht verärgert. Das war schließlich ihre Geschichte. »Das ging dann immer so weiter. Sogar noch als sie die Schule abgeschlossen und angefangen hatte, in einer Tankstelle auf der Skenby Road zu arbeiten. Sie hatte kein eigenes Leben, dafür sorgte Eric.« Sie bedachte Paula mit einem gewitzten Seitenblick. »Würde das nicht auch Ihr Tony Hill sagen? Die Menschen werden in ihrer Opferrolle oft zu Komplizen des Täters.«
»Sie wissen eine Menge über Kerry Fletcher.«
Dean musterte sie wachsam. »Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, so viel wie möglich über diese Frauen zu erfahren. Eine Tasse Kaffee und ein bisschen mütterliche Wärme bringen einen oft ganz schön weit in dieser beschissenen Rotlichtwelt, Paula.«
»Was passierte dann?«
»Die Mutter starb. Soweit ich weiß, vor ungefähr vier Monaten. Es dauerte einige Wochen, bis Kerry langsam dämmerte, dass sie nun endlich frei war.«
»Und dann ging sie auf die Straße? Was wurde aus dem Job bei der Tankstelle?«
»Als Kerry klarwurde, dass sie nun machen konnte, was sie wollte, war das eine ziemliche Bombe. Sie wollte nicht nur einfach frei sein, sie wollte Eric leiden lassen. Er würde sie nicht mehr umsonst auf dem Servierteller bekommen, und sie ließ nun andere Männer für das bezahlen, was so lange nur ihm gehört hatte.«
Paula pfiff durch die Zähne. »Und wie hat Eric das aufgenommen?«
»Nicht gut«, antwortete Dean trocken. »Er tauchte immer wieder an der Stelle auf, wo sie anschaffen ging, und flehte sie an heimzukommen. Kerry lehnte rundheraus ab. Sie sagte immer, es wäre sicherer auf den Straßen als bei ihm zu Hause. Wir mussten ihn ein paarmal verwarnen. Er machte Szenen, und es drohte übel zu enden. Seitdem hat er sich ruhig verhalten, soweit ich weiß.«
»Sie sagte, es wäre sicherer auf den Straßen als bei ihm zu Hause«, wiederholte Paula. »Das passt genau zu dem, was Tony gesagt hat. Und er muss ihre E-Mail-Adresse benutzt haben. Natürlich hat er das.« Von
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