Vergeltung
gerade deshalb an ihn weitergab, weil seine Gründlichkeit vorbildlich war. In einer Welt, in der die meisten Polizisten so wenig wie möglich taten, war Kevin angesehen für seine akribische Vorgehensweise und sein penibles Beharren, alles wasserdicht zu machen. Es war ihm nicht klar, aber er war der Grund dafür, dass Carol Jordans Blutdruck nicht höher war. Und sie wusste das.
Vance zog die Kleider an, die Terry ordentlich gefaltet auf den Spülkasten der Toilette gelegt hatte. Neue Unterwäsche und Socken, Stoffhose und ein langärmeliges Twillhemd mit einem adretten Button-Down-Kragen. Ganz unten im Stapel lag eine Perücke, ein dichter mittelbrauner Schopf mit Silberfäden. Vance setzte sie auf. Das Haar fiel natürlich zu einem Scheitel, aber der verlief anders als bei seinem eigenen Haar. Obwohl der Stil dem des alten Jacko Vance aus den Tagen seiner Fernsehkarriere glich, sah er dennoch ganz anders aus. Eine besondere Note verlieh ihm eine Brille mit ungetönten Gläsern und einem Gestell mit einer ovalen, modischen Fassung. Der Mann im Spiegel sah überhaupt nicht wie Jason Collins aus. Auch nicht sehr wie der alte Jacko Vance, dachte er mit einer Spur Bedauern. Er bemerkte Falten, wo vorher keine gewesen waren, die Haut an der Kieferpartie war etwas schlaff, die Wangen wiesen geplatzte Äderchen auf. Die Haft hatte ihn schneller altern lassen, als das Leben in Freiheit es getan hätte. Er könnte wetten, dass seine Ex-Frau sich besser gehalten hatte. Aber er würde ihr ein paar zusätzliche Falten verpassen, bevor er mit ihr fertig war.
Als Vance aus dem Bad trat, war er erfreut über das bewundernde Staunen auf Terrys Gesicht. »Du siehst großartig aus«, fand er.
»Du hast deine Sache gut gemacht«, antwortete Vance und schlug Terry auf die Schulter. »Alles ist perfekt. Und jetzt habe ich Hunger. Was hast du mir besorgt?«
Während sie aßen, überprüfte Vance den Inhalt des Aktenkoffers, den Terry mitgebracht hatte. Er enthielt zwei gefälschte Pässe mit dazu passenden Führerscheinen, jeweils ein britisches und ein irisches Paar; ein dickes Bündel Zwanzigpfundnoten, eine Liste von Bankkonten auf Namen, die zu den Pässen passten, mit den dazugehörigen PINs. Mehrere Kreditkarten, Rechnungen von Versorgungsunternehmen für ein Haus am Stadtrand von Leeds und vier Prepaid-Handys. In einer Seitentasche steckten Auto- und Hausschlüssel. »Alles, was du sonst brauchst, ist im Haus«, sagte Terry. »Laptop, Festnetztelefon, Satellitenfernsehen.«
»Super«, sagte Vance und aß den letzten Bissen Thunfischsalat und grüne Sojabohnen. »Bei dem meisten Essen hier hab ich keine Ahnung, was es ist. Aber es schmeckt verdammt gut.«
»Ich hab gestern den Kühlschrank im Haus aufgefüllt«, sagte Terry eifrig. »Ich hoffe, du magst das, was ich eingekauft habe.«
»Ich bin sicher, dass es das tut.« Vance wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab, dann warf er die Überbleibsel ihres Imbisses in den Abfalleimer. »Es ist Zeit loszugehen«, sagte er. Er erhob sich, drehte sich dann zu dem Bett um, wo Terry gesessen hatte, zog die Decke zurück und schlug auf das Kissen, damit es eine Vertiefung bekam. »Jetzt sieht es aus, als hätte hier jemand geschlafen. Wenn das Zimmermädchen hereinkommt, wird sie sich an nichts Ungewöhnliches erinnern, sollte die Polizei kommen und Fragen stellen.«
Vance ließ Terry zum Wagen vorausgehen, und als sie bei dem Mercedes ankamen, befahl er nur: »Fahr du.« Er hatte keine Zweifel an seiner Fähigkeit, den Wagen zu fahren. Terry hatte seine Anordnungen befolgt und einen Automatikwagen mit Fahrtregler gekauft. Und etwas, das sich Navi nannte, eine Neuerung, die eingeführt worden war, seit er zum letzten Mal ein Auto gefahren hatte. Trotzdem wollte er sicherheitshalber seinen ersten Versuch lieber nicht in Reichweite möglicher Zeugen machen.
Als Terry vom Parkplatz hinabfuhr, ließ sich Vance entspannt auf seinem Sitz zurücksinken und lehnte den Kopf an die ergonomisch geformte Kopfstütze. Seine Augenlider zitterten. Die Wirkung des Adrenalins war endlich abgeflaut, und er war nur noch müde und ausgelaugt. Es würde nicht schaden, ein Weilchen zu schlafen, während Terry ihn zu seinem neuen Heim fuhr. Denn es gab noch vieles, was er bewältigen musste, bevor er sich richtig ausruhen konnte.
Das Holpern, als sie über eine Rüttelschwelle fuhren, weckte Vance auf. Er schreckte hoch, einen Moment völlig ohne Orientierung. »Was … Wo sind wir?«,
Weitere Kostenlose Bücher