Vergeltung
die Wahrheit nicht zur Verteidigung ausreichte.
»Und du hast nie versucht, mich zurückzuhalten, oder? Du hast nie gedacht, es könnte für mich Konsequenzen haben. Noch nie war das so, bei all den Situationen, wenn ich alles für dich riskiert habe. Weil du mich brauchtest.« Jetzt hatte die Wut eine spöttische Schärfe. »Und jetzt das. Du hast gestern dagesessen und deine verdammte Risikoanalyse gemacht, und nicht ein einziges Mal hast du angedeutet, dass Vance hinter den Leuten her sein könnte, die mir etwas bedeuten. Warum, Tony? Hast du nicht geglaubt, dass ich so etwas wissen will? Oder ist es dir einfach nicht eingefallen?«
Er kannte physischen Schmerz. Einmal war er nackt und gefesselt zum Sterben auf einem Betonboden zurückgelassen worden. Er hatte einem Mörder mit einer Pistole gegenübergestanden. Aber nichts hatte so weh getan wie Carols Vorwürfe. »Es ist mir nicht …«
»Schau an. Endlich siehst du mal betroffen aus. Ist es das, was dich jetzt quält?« Sie trat nahe an ihn heran und stieß ihn fest vor die Brust, so dass er rückwärts taumelte. »Die Tatsache, dass du das nicht vorausgesagt hast? Hast es nicht geahnt? Dass du nicht so schlau bist, wie du dachtest? Der große Tony Hill hat Scheiße gebaut, und jetzt ist mein Bruder tot?« Sie stieß ihn wieder, und er musste ausweichen, um nicht die Treppe hinunterzufallen. »Das ist nämlich passiert. Du sollst doch angeblich vorhersagen können, was Scheißkerle wie Vance als Nächstes tun. Aber du hast versagt.« Sie wies mit einer Armbewegung auf das Bett. »Schau dir das an, Tony. Schau es an, bis du deine verdammten Augen nicht mehr schließen kannst, ohne es vor dir zu sehen. Du hast das getan, Tony. Genauso sehr wie Jacko Vance.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, und er wich zurück.
»Erbärmlich«, stieß sie wütend hervor, drehte sich auf dem Absatz um und rannte fast die Stufen hinunter. Tony blickte ihr hinterher und sah, dass Franklin ihn anschaute und den Kopf schüttelte. Er war sich bewusst, dass alle in der Scheune innegehalten hatten, um ihn und Carol anzustarren.
»Darf ich fragen, wohin Sie gehen?«, stoppte Franklin Carol mit ausgestreckter Hand, als sie an ihm vorbeistürmte.
»Jemand muss es meinen Eltern sagen«, antwortete sie. »Und jemand muss bei ihnen sein, um dafür zu sorgen, dass Vance sie nicht auch niedermacht.«
»Geben Sie die Adresse Sergeant Moran da drüben.« Er zeigte auf einen Tisch, den man in der Ecke des Zelts aufgestellt hatte, wo eine Frau in Daunenjacke und Baseballkappe an einem Laptop saß. »Wir werden die Kollegen vor Ort bitten, vor dem Haus zu warten, bis Sie dort sind.«
»Danke«, sagte sie. »Sie müssen sich wegen der Fahndung nach Vance auch mit West Mercia in Verbindung setzen. Ich werde die Personalien der ermittelnden Kollegen Sergeant Moran geben.«
Tony zwang sich, seine Schockstarre zu überwinden, und rief zu ihr hinunter: »Carol, warte auf mich.«
»Du kommst nicht mit«, erwiderte sie. Ihre Stimme war wie das Zuschlagen einer Tür. Und er stand draußen.
32
E s war besser, sich im Augenblick nicht im Büro aufzuhalten. Der Schatten dessen, was Carol geschehen war, hing über allen wie eine dunkle Wolke, dachte Chris, während sie den Bergrücken der Pennines hinab- und nach Derbyshire hineinfuhr. Beim Fahren trank sie Kaffee, der schon so kalt war, dass jemand, der ihn probiert hätte, kaum hätte sagen können, ob es sich um warm gewordenen Eiskaffee oder abgestandenen heißen Kaffee handelte. Aber das war ihr egal. Sie trank ihn ja nur, um sich wach zu halten. Nach der gestrigen Fahrt zu Kay Hallams Villa kam sie sich langsam vor, als sei sie an den Autositz geschweißt.
In einer idealen Welt hätte sie ein Exemplar von Geoff Whittles aus dem Verkehr gezogenen Buch über Vance, den Polizistenkiller, in die Hände bekommen, so dass sie sich in einer Ecke des Büros hätte hinkauern können, um es vor dem Treffen mit dem Autor zu lesen. Aber dies schien einer der seltenen Fälle zu sein, in dem »verboten und eingestampft« wirklich genau das bedeutete. Es war kein Exemplar von Sporting Kill greifbar, und selbst wenn noch irgendwo eines versteckt gewesen wäre, hätte sie keine Zeit fürs Lesen gehabt. Jetzt, da das Morden eingesetzt hatte, nicht mehr. Noch beschuldigte niemand Vance öffentlich des Doppelmordes an Michael Jordan und seiner Freundin, aber alle im Einsatzzentrum wussten genau, wen man zur Verantwortung ziehen musste.
Stacey hatte circa
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