Vergessene Stimmen
irgendjemand, der sie kannte, wollte ihren Tod. Und entweder ist der Betreffende selbst in das Haus ihrer Eltern eingedrungen, oder er hat einen Dritten damit beauftragt.«
»Denken Sie, es hatte was mit der Schwangerschaft zu tun?«, fragte Rider.
Garcia nickte.
»Wir dachten, es hinge damit zusammen, aber einen konkreten Anhaltspunkt konnten wir dafür nicht finden.«
»MWL – Sie haben nicht herausgefunden, wer damit gemeint war?«
Garcia sah sie verständnislos an.
»Diese Abkürzung, die Rebecca in ihrem Tagebuch verwendete. Sie haben es in dem Gespräch mit den Eltern erwähnt. ›Meine wahre Liebe‹, wissen Sie noch?«
»Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Es war wie eine Art Kode. Sicher waren wir uns allerdings nie. Wir haben jedenfalls nicht herausbekommen, wer damit gemeint war. Suchen Sie das Tagebuch?«
Bosch nickte, und Rider fuhr fort: »Wir suchen alles. Das Tagebuch, die Mordwaffe, der ganze Beweismittelkarton ist verschwunden.«
Garcia schüttelte den Kopf wie jemand, der sich sein ganzes Berufsleben lang mit den Frustrationen des Polizeidiensts herumgeschlagen hatte.
»Das überrascht mich nicht sonderlich. So etwas passiert ständig.«
»Leider ja.«
»Aber trotzdem, wenn der Karton wieder auftauchen sollte, wird das Tagebuch nicht darin sein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es zurückgegeben habe.«
»Den Eltern?«
»Der Mutter. Wie gesagt, ich wurde Lieutenant und kam ins South Bureau. Ron Green war bereits in Pension gegangen. Ich gab den Fall ab, und mir war natürlich klar, dass die Sache damit erledigt wäre. Niemand würde sich noch einmal so damit befassen, wie wir das getan hatten. Deshalb sagte ich Muriel, ich würde versetzt, und gab ihr das Tagebuch …
Die arme Frau. Es war, als bliebe an diesem Julitag die Zeit für sie stehen. Sie war wie erstarrt. Konnte nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Ich weiß noch, wie ich sie besuchte, bevor ich umzog. Das war ungefähr ein Jahr nach dem Mord. Sie ließ mich in Beckys Zimmer sehen. Es war völlig unangetastet. Es war noch genauso wie in der Nacht, in der sie entführt wurde.«
Rider nickte ernst. Garcia sagte nichts weiter. Schließlich räusperte sich Bosch, lehnte sich vor und stellte Garcia noch einmal die gleiche Frage.
»Als wir in Ihr Büro kamen und sagten, wir hätten eine DNS-Übereinstimmung, war Ihr erster Gedanke, es wäre jemand aus dem Restaurant gewesen. Warum?«
Bosch sah Rider an, um zu sehen, ob sie über seine Einmischung verärgert war. Anscheinend war das nicht so.
»Ich weiß nicht, warum«, sagte Garcia. »Wie gesagt, irgendwie dachte ich die ganze Zeit, es könnte aus dieser Ecke gekommen sein, weil ich nie das Gefühl hatte, dort alles wirklich befriedigend geklärt zu haben.«
»Meinen Sie jetzt den Vater?«
Garcia nickte.
»Der Vater war irgendwie nicht ganz koscher. Ich weiß nicht, ob man das heute noch so sagt. Aber damals war das der Begriff, der es auf den Kopf traf.«
»Inwiefern?«, fragte Rider. »Inwiefern war der Vater nicht ganz koscher?«
Bevor Garcia antworten konnte, kam einer der uniformierten Adjutanten in das Büro.
»Commander? Es sind jetzt alle im Besprechungszimmer. Wir wären so weit.«
»Danke, Sergeant. Ich komme gleich.«
Nachdem der Sergeant gegangen war, sah Garcia wieder Rider an, als hätte er die Frage vergessen.
»In der Mordakte gibt es nichts, was auch nur den leisesten Verdacht auf den Vater werfen könnte«, sagte Rider. »Wieso fanden Sie ihn irgendwie nicht ganz koscher?«
»Begründen kann ich das leider nicht. Es war einfach nur so ein Gefühl. Er hat sich nie so verhalten, wie man das von einem Vater erwartet hätte, wissen Sie? Er war zu still. Er wurde nie sauer, schrie nie rum – immerhin hatte jemand seine Tochter umgebracht. Er nahm Ron oder mich nicht ein einziges Mal beiseite und sagte so etwas wie: ›Diesen Kerl will ich mir als Erster vorknöpfen, wenn Sie ihn finden.‹ Das hätte ich eigentlich erwartet.«
Ungeachtet des kalten Treffers, der Mackey mit der Waffe in Verbindung brachte, war in Boschs Augen weiterhin jeder verdächtig. Und damit gehörte auch Robert Lost noch zum Kreis der Verdächtigen. Trotzdem maß er Garcias Einschätzung der Gefühlsreaktionen des Vaters auf die Ermordung seiner Tochter keine weitere Bedeutung bei. Von den Hunderten von Morden, in denen er ermittelt hatte, wusste er, dass es vollkommen unmöglich war, solche Reaktionen zu beurteilen oder einen Verdacht auf sie zu gründen. Bosch hatte
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