Vergessene Stimmen
klar.«
»Danny erfuhr es also von seinem Vater. Haben Sie oder Ihr Mann auch direkt mit Danny gesprochen?«
»Nein, aber Danny schrieb mir einen langen Brief über Becky und wie viel sie ihm bedeutete. Er war sehr traurig und sehr rührend. Wie alles.«
»Das kann ich mir denken. Kam er zum Begräbnis?«
»Nein, zum Begräbnis kam er nicht. Seine, äh, seine Eltern hielten es für das Beste, wenn er auf Hawaii blieb. Der Schock, wissen Sie? Mr. Kotchof rief an und sagte, dass er nicht kommen würde.«
Bosch nickte. Er wandte sich vom Spiegel ab und ließ das Foto in seiner Tasche verschwinden. Muriel Lost merkte es nicht.
»Und danach?«, fragte er. »Nach dem Brief, meine ich. Hat er sich noch mal bei Ihnen gemeldet? Hat er zum Beispiel mal angerufen und mit Ihnen gesprochen?«
»Nein, ich glaube, danach haben wir nichts mehr von ihm gehört. Nach dem Brief nicht mehr.«
»Haben Sie diesen Brief noch?«, fragte Rider.
»Natürlich. Ich habe alles aufbewahrt. Ich habe eine ganze Schublade voller Briefe, die wir wegen Rebecca bekommen haben. Sie war sehr beliebt.«
»Wir müssten auch diesen Brief von Ihnen ausleihen, Mrs. Lost«, sagte Bosch. »Früher oder später müssen wir vielleicht auch diese ganze Schublade durchsehen.«
»Warum?«
»Weil man nie wissen kann«, sagte Bosch.
»Weil wir nichts unversucht lassen wollen«, fügte Rider hinzu. »Wir wissen, für Sie ist das alles eher lästig, aber umso mehr sollten Sie sich deshalb vor Augen halten, warum wir das alles tun. Wir wollen die Person finden, die Ihrer Tochter das angetan hat. Es ist zwar schon lange her, aber das heißt nicht, dass der Schuldige ungestraft davonkommen sollte.«
Muriel Lost nickte. Abwesend hatte sie ein kleines Zierkissen vom Bett genommen und mit beiden Händen an ihre Brust gedrückt. Es sah aus, als könnte es viele Jahre zuvor von ihrer Tochter gemacht worden sein. Es war ein kleines blaues Quadrat mit einem in der Mitte aufgenähten Filzherz. Muriel Lost hielt es so, dass sie wie eine Zielscheibe aussah.
13
Bosch fuhr, und Rider las den Brief, den Danny Kotchof den Losts nach Beckys Ermordung geschrieben hatte. Er war eine Seite lang, hauptsächlich gefüllt mit seinen schönen Erinnerungen an ihre verstorbene Tochter.
»›Ich kann Ihnen überhaupt nicht sagen, wie bedauerlich ich es finde, dass das passieren musste. Sie wird mir sehr fehlen. Liebe Grüße, Danny.‹ Und das war’s auch schon.«
»Welches Datum hat der Poststempel?«
Rider drehte den Umschlag um und sah nach.
»Maui, 29. Juli 1988.«
»Hat sich jedenfalls mit dem Schreiben Zeit gelassen.«
»Vielleicht fiel es ihm schwer. Wieso hast du ihn plötzlich im Visier, Harry?«
»Habe ich gar nicht. Es ist nur so, dass sich Garcia und Green sein Alibi telefonisch haben bestätigen lassen. Erinnerst du dich noch, was in der Akte stand? Dort hieß es, der Vorgesetzte des Jungen sagte, er hätte am Tag des Mordes und am Tag danach in der Leihwagenfirma Autos gewaschen. Keine Zeit, um nach L.A. zu fliegen, Becky umzubringen und rechtzeitig zur Arbeit zurückzukommen.«
»Na und?«
»Und jetzt erfahren wir plötzlich von Muriel Lost, dass sein Vater Geschäftsführer eines Autoverleihs war. In der Mordakte stand davon nichts. Wussten Garcia und Green das? Wetten, dass Papa den Laden leitete, in dem der Sohnemann Autos gewaschen hat? Wetten, dass der Vorgesetzte, der dem Sohn das Alibi verschaffte, für den Vater arbeitete?«
»Mann, das mit der Frankreichreise war ein Scherz. Wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, du willst einen Flug nach Maui rausschinden.«
»Ich bin nur kein Freund von Schlamperei. Das hinterlässt nur offene Fragen. Wir müssen mit Danny Kotchof reden und ihn selbst von der Liste der Verdächtigen streichen. Falls das nach so vielen Jahren überhaupt noch möglich ist.«
»AutoTrack, Harry.«
»Damit finden wir ihn vielleicht. Aber der Verdacht gegen ihn lässt sich damit nicht ausräumen.«
»Jetzt mal angenommen, sein Alibi erweist sich als wacklig – was hieße das letztlich? Ein Sechzehnjähriger kommt heimlich aus Hawaii nach L.A. bringt seine ehemalige Freundin um und kehrt dann wieder nach Hause zurück, ohne dass jemand was davon mitkriegt?«
»Vielleicht war es zunächst nicht so geplant. Außerdem war er siebzehn – Beckys Mutter hat gesagt, er war ein Jahr älter.«
»Oh, siebzehn«, sagte Rider sarkastisch, als machte das einen gewaltigen Unterschied.
»Als
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