Vergessene Stimmen
geöffnet. Dann habe ich ihm erzählt, was wir haben und was ich vorhatte, und unterm Strich vertraut er mir. Deshalb hat er mich mehr oder weniger ungehindert Einblick ins Spezialarchiv nehmen lassen.«
»Die Public Disorder Unit wurde ja schon lange, bevor er zu uns stieß, wieder aufgelöst. Wusste er ü berhaupt von ihrer Existenz?«
»Ich bin sicher, dass er davon in Kenntnis gesetzt wurde, als er den Posten annahm. Vielleicht sogar schon, bevor er ihn annahm.«
»Hast du ihm konkret von Mackey und den Chatsworth Eights erzählt?«
»Konkret nicht. Ich habe ihm nur gesagt, bei unserem Fall gäbe es Querverbindungen zu einem alten PDU-Verfahren und dass ich deshalb ins Spezialarchiv müsste, um eine Akte rauszusuchen. Er hat Lieutenant Hohman mitgeschickt. Wir sind rein, haben die Akte rausgesucht, und ich musste sie mir durchsehen, während Hohman mir am Tisch gegenübersaß. Weißt du was, Harry? Im Spezialarchiv sind ganz schön viele Akten.«
»Wo die ganzen Leichen begraben sind …«
Bosch wollte noch etwas sagen, aber er wusste nicht, wie er es formulieren sollte. Rider sah ihn an. Ihr konnte er nichts vormachen.
»Was ist, Harry?«
Zunächst sagte er nichts, aber sie wartete einfach.
»Kiz, du hast gesagt, der Mann im Sechsten traut dir. Traust du ihm auch?«
Sie sah ihm in die Augen, als sie antwortete.
»Wie ich dir vertraue, Harry. Okay?«
Bosch sah sie an.
»Okay. Das genügt mir vollauf.«
Rider wollte in der Arcadia Street weitergehen, aber Bosch deutete auf den alten Pueblo, die Stelle, wo die Stadt der Engel gegründet worden war. Er wollte den längeren Weg nehmen und dort durchgehen.
»Ich war schon eine ganze Weile nicht mehr hier unten. Sehen wir uns das mal an.«
Sie überquerten den runden Hof, in dem die Padres an Ostern immer die Tiere gesegnet hatten, und gingen am Instituto Cultural Mexicano vorbei. Sie folgten der gekrümmten Arkade mit ihren billigen Souvenirständen und Churro-Buden. Aus unsichtbaren Lautsprechern kam Mariachi-Musik vom Band, kontrapunktiert von Live-Gitarrenmusik.
Sie fanden den Musiker schließlich auf einer Bank vor dem Avila Adobe. Sie blieben stehen und hörten dem alten Mann zu. Er spielte eine mexikanische Ballade, die Bosch schon einmal gehört zu haben glaubte, aber nicht benennen konnte.
Bosch betrachtete den Lehmbau hinter dem Musiker und fragte sich, ob Don Francisco Avila eine Ahnung gehabt hatte, was er da in Bewegung setzte, als er 1818 an dieser Stelle seinen Claim absteckte. Von diesem Punkt sollte eine riesige Stadt in die Höhe und in die Breite wachsen. Eine Stadt so groß wie jede andere. Und genauso verdorben. Eine Stadt mit Anziehungskraft, eine Stadt der Selbsterfindung und der Neuerfindung. Ein Ort, an dem der Traum so greifbar schien wie das Schild, das sie oben auf diesem Hügel aufgestellt hatten, die Wirklichkeit aber immer etwas anderes war. Die Straße zu diesem Schild oben auf dem Hügel war mit einem verschlossenen Tor gesperrt.
Es war eine Stadt voller Alleshaber und Habenichtse, Filmstars und Statisten, Antreiber und Getriebener, Jäger und Gejagter. Vollgefressene und Hungrige und wenig Platz dazwischen. Eine Stadt, in der sie trotz alldem immer noch Tag für Tag Schlange standen und hinter den Bombensperren darauf warteten, hineinzukommen und drinnen bleiben zu dürfen.
Bosch holte seine Geldspange aus der Tasche und warf einen Fünfer in den Korb des alten Musikers. Dann gingen er und Rider durch die alte Cucamonga Winery, deren Kellereien in Galerien und Verkaufsstände für Künstler umgebaut worden waren. Als sie auf der anderen Seite auf die Alameda Street hinaustraten, ragte der Uhrenturm des Bahnhofs vor ihnen auf. Sie überquerten die Straße und kamen an einer Sonnenuhr vorbei, in deren Granitsockel gemeißelt war:
V ISION TO S EE
F AITH TO B ELIEVE
C OURAGE TO D O
Die Union Station war als Spiegelbild der Stadt und des Geistes, der in ihr herrschen sollte, konzipiert worden. Sie war ein Schmelztiegel unterschiedlichster Architekturstile – spanischer Kolonialstil, Mission, stromlinienförmige Moderne, Art Deco und dazu Southwestern und maurische Ornamente. Aber im Gegensatz zum Rest der Stadt, wo dieser Tiegel eindeutig zu oft überkochte, verschmolzen im Bahnhof die Stile wie von selbst zu etwas Einzigartigem, Schönem. Dafür mochte Bosch ihn ganz besonders.
Sie traten durch die Glastüren in die großzügige Eingangshalle, von der ein drei Etagen hoher Bogen in den riesigen Wartesaal
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