Vergessene Stimmen
nicht gegen Kaution rauskam …«
Er breitete die Arme aus, um Rider zu Ende sprechen zu lassen.
»Februar, März, April, Mai, Juni«, sagte sie aufgeregt. »Fünf Monate. Bei guter Führung könnte er ohne weiteres im Juli wieder draußen gewesen sein!«
Bosch nickte. In den Bezirksgefängnissen waren Häftlinge untergebracht, die sich in Untersuchungshaft befanden oder Haftstrafen von unter einem Jahr verbüßten. Sie litten schon seit Jahrzehnten unter Überfüllung und wurden deshalb per Gerichtsbeschluss regelmäßig kontrolliert, ob sie die maximalen Belegungszahlen nicht überschritten. Infolgedessen war es dort schon seit langem gängige Praxis, Insassen wegen guter Führung frühzeitig zu entlassen, wobei ihnen je nach Belegungsdichte des jeweiligen Gefängnisses pro verbüßtem Hafttag bis zu drei Tage angerechnet wurden.
»Das sieht gut aus, Harry.«
»Vielleicht zu gut. Wir müssen sehen, dass die Sache Hand und Fuß bekommt.«
»Sobald wir zurück sind, setze ich mich an den Computer und sehe nach, wann er aus Wayside entlassen wurde. Wie wirkt sich das auf unsere Telefonüberwachung aus?«
Bosch überlegte kurz, ob sie einen Gang zurückschalten sollten.
»Ich würde sagen, wir machen weiter wie gehabt. Falls die Wayside-Entlassung zeitlich passt, beobachten wir Mackey und Burkhart. Wir scheuchen Mackey wie geplant auf, denn er bietet mehr Angriffsfläche. Wir tun es, wenn er arbeitet und nicht mit Burkhart zusammen ist. Wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen, wird er ihn anrufen.«
Bosch stand auf.
»Aber wir müssen auch noch die anderen Namen überprüfen, die anderen Mitglieder der Eights«, fügte er hinzu.
Rider stand nicht auf. Sie schaute zu ihm hoch.
»Glaubst du, es könnte klappen?«
Bosch zuckte mit den Achseln.
»Es muss klappen.«
Er sah sich in der Bahnhofshalle um. Er hielt nach Gesichtern und Augenpaaren Ausschau, die sich rasch von ihm abwandten. Halb rechnete er damit, Irving unter den Reisenden zu entdecken. Mr. Clean, stets zur Stelle. Diesen Gedanken hatte Bosch immer gehabt, wenn Irving an einem Tatort auftauchte.
Jetzt stand auch Rider auf. Sie warfen ihre leeren Kaffeebecher in einen Abfallkorb und gingen zum Ausgang. Dort blickte Bosch noch einmal hinter sich, um nach einem Schatten Ausschau zu halten. Inzwischen war ihm klar, dass sie mit dieser Möglichkeit rechnen mussten. Der Ort, der noch vor zwanzig Minuten etwas Heimeliges und Einladendes gehabt hatte, wirkte mit einem Mal ominös und bedrohlich. Die Stimmen waren kein freundliches Raunen mehr. Sie hatten einen scharfen Unterton angenommen. Sie hörten sich wütend an.
Als sie ins Freie hinaustraten, stellte Bosch fest, dass sich die Sonne hinter die Wolken zurückgezogen hatte. Für den Rückweg würde er die Sonnenbrille nicht mehr brauchen.
»Tut mir Leid, Harry«, sagte Rider.
»Was?«
»Eigentlich dachte ich, es würde anders, wenn du zurückkommst. Und was ist? Kaum bist du wieder dabei, ziehst du gleich als Erstes einen Fall, bei dem einem aus allen Ecken High Jingo entgegenschreit.«
Bosch nickte, als sie den Bürgersteig erreichten. Er sah die Sonnenuhr und die in den Granitsockel gemeißelten Worte. Sein Blick blieb auf der letzten Zeile haften. Mut, um zu handeln.
»Ich mache mir keine Sorgen«, sagte er. »Aber sie sollten sich welche machen.«
22
»Meinetwegen kann es losgehen«, antwortete Commander Garcia, als Bosch ihn fragte, ob er so weit sei.
Bosch nickte und ging zur Tür, um die zwei Frauen von der Daily News hereinzulassen.
»Hi, ich bin McKenzie Ward«, sagte die erste. Sie war offensichtlich die Reporterin. Die andere Frau trug eine Fototasche und ein Stativ.
»Ich bin Emmy Ward«, sagte die Fotografin.
»Schwestern?«, fragte Garcia, obwohl die Antwort auf der Hand lag, so ähnlich sahen sich die zwei Frauen: beide in den Zwanzigern, beide attraktive Blondinen mit einem strahlenden Lächeln.
»Ich bin älter«, sagte McKenzie. »Aber nicht viel.«
Sie schüttelten sich alle die Hände.
»Wie kommen zwei Schwestern zur selben Zeitung und dann auch noch an dieselbe Story?«, fragte Garcia.
»Ich war schon ein paar Jahre bei der News , und dann hat sich Emmy einfach beworben. Keine große Sache. Wir arbeiten viel zusammen. Die Fotoaufträge werden immer willkürlich vergeben. Heute arbeiten wir zusammen. Morgen vielleicht nicht.«
»Hätten Sie was dagegen, wenn wir zuerst ein paar Fotos machen?«, fragte Emmy. »Ich habe
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