Vergib uns unsere Sünden - Thriller
Spurensicherung gemeint, ein Großteil des zur Identifikation benötigten Materials klebe im Profil seiner Schuhsohlen. Und dabei hat er gegrinst, als würde er über Baseball reden. Anscheinend wurden manche Leute unempfindlich gegen so etwas. Miller nicht, und auch wenn er ein Mordzimmer wie das von Catherine Sheridan oder Natasha Joyce betreten konnte, ohne sich übergeben zu müssen, fiel es ihm noch lange nicht leicht.
»Hast du irgendeine Vorstellung davon, was einen Menschen dazu bringt, so etwas zu tun?«, fragte Roth. »Jemanden kaputt zu schlagen und zu erwürgen und was er noch alles mit ihnen angestellt hat?«
Miller schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nicht. Und mit dem ganzen Quatsch vom Missbrauch in der Kindheit, den die Psychos uns andrehen wollen, kann ich auch nicht viel anfangen. Ich kenne etliche Leute, die es schwer genug hatten, und die laufen auch nicht durch die Gegend und denken
darüber nach, wen sie heute zu Hackfleisch machen können.«
Miller versuchte, nach vorn zu schauen. Immerhin ging es aufwärts. Sie hatten etwas, die erste einigermaßen vielversprechende Spur dieser Mordfallermittlung. Die Verantwortung belastete ihn. Wenn er jetzt einen Fehler machte, musste womöglich noch jemand sterben. Wenn er sich in dieser Sache vertat, würde irgendwo jemand aufwachen, und ein Mann beugte sich über sie, die Hände schon an ihrem Hals und fest entschlossen zu tun was er tun musste. Und gab es für sie eine Hoffnung? De facto nein. Millers Gedanken gingen zum nächsten potentiellen Opfer. Wo war sie jetzt? Wie hieß sie? Hatte sie einen Job, eine Familie, Menschen, die sich auf sie verließen? Wie viele Menschenleben würden durch ihren Tod beeinträchtigt sein? Washington war groß genug, um das zu schlucken. Washington wurde auch mit einer Geschichte von solchen Ausmaßen fertig, die am Ende zu einem Stück Stadtgeschichte geworden wäre. Aber einzelne Menschen? Und er selbst? Miller fragte sich, ob er die Sache wohl einigermaßen unbeschadet überstehen würde.
Er hatte Geschichten gehört. Geschichten von Cops, die - zerstört von solch einem Leben - demoralisiert und desillusioniert die letzten schweren Jahre in irgendeinem Apartment zubrachten, Tag für Tag in die Bar an der nächsten Ecke trotteten, um dort mit anderen pensionierten Cops die alten Geschichten aufzuwärmen, endlos über das zu schwafeln, was sie alles erlebt hatten. Die Sehnsucht, die endlose Hoffnung auf etwas, das nicht annähernd an die Hast, den Nervenkitzel und den Wahnsinn des Lebens herankam, das sie gelebt hatten. Bis es plötzlich nicht mehr weiterging und sie psychisch zusammenbrachen. Dann reinigten sie den Dienstrevolver, füllten die Kammern, tranken ein, zwei Gläser und machten dem Traum ein Ende. Und keiner verlor mehr ein Wort über sie.
War das seine Zukunft?
Was würde passieren, wenn sie den Kerl nicht fanden … wenn der Schnurmörder ein Niemand blieb? Ein Geist, ein Phantom, etwas, das da war, und dann wieder nicht.
Robert Miller wünschte es sich anders. Vielleicht rief er sogar ein paar Zeilen aus einem halb vergessenen Gebet zu Hilfe. Lass meine schlimmsten Befürchtungen nicht wahr werden, mach, dass es anders ist.
Halb sieben. Viel Verkehr auf den Straßen. Streifenwagen kamen aus der Tiefgarage gefahren, verließen das Revier. Miller sah einen von ihnen die New York Avenue Richtung Mount Vernon Square und Carnegie-Bibliothek davonfahren. Beim Namen Carnegie-Bibliothek fielen ihm Catherine Sheridans letzte Stunden wieder ein. Die unbeantworteten Fragen: Wo ist sie gewesen? Wer hat sie gesehen? Und Natasha Joyces Besuch in der Polizeiverwaltung. War diese Frances Gray ein Gespinst von Natashas paranoider Phantasie, oder lief da Verdächtiges in größerem Stil? Und Michael McCullough … Hatte er existiert, oder war er eine Erfindung wie diese Isabella Cordillera, eine Frau, die den Namen eines nicaraguanischen Gebirgszugs trug?
Für einen Augenblick fühlte sich Miller überwältigt, als wäre das Gewicht all dessen allemal groß genug, ihn hier und jetzt zu zerdrücken.
Er sah auf die Uhr: acht Minuten nach halb sieben. Der Coffee Shop war jetzt geöffnet. Audrey hätte die gefüllte Kaffeekanne schon auf der Wärmplatte stehen, war vielleicht dabei, Rösti mit Eiern und Speck zu braten. Stammkunden aus den verschiedenen Ecken des Viertels würden bereits auf dem Weg zu ihr sein. Leute, die sie namentlich, vom Sehen oder von telefonischen Frühstücksbestellungen kannte.
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