Vergib uns unsere Sünden - Thriller
Seite eines ehemaligen Polizeibeamten erschossen.
Miller wusste, dass alles zusammenhing. Die Stränge des Netzes waren zart, vielleicht unsichtbar, aber sie waren da. Da war er sicher.
Die Eislaufbahn ist für die Öffentlichkeit geschlossen. An manchen Tagen verlasse ich nach Unterrichtsschluss das Mount Vernon College und fahre hinaus zur Eislaufbahn im Brentwood Park. An Montagen und Dienstagen und jeden zweiten Samstag ist Sarah hier, studiert ihre Figuren ein, trainiert
für die Nationalen Eiskunstlaufmeisterschaften im Januar nächsten Jahres. Sie ist einundzwanzig. Ich kenne ihre Adresse und weiß, wo sie zur Schule gegangen ist. Ich weiß alles, was man über sie wissen kann.
Ich schaue ihr beim Eislaufen zu, sehe sie mit Engagement und Sorgfalt trainieren.
Sie trainiert ihr Programm, und obwohl ich weiß, dass sie mich dahinten am Rand der Eisbahn sehen kann und so tut, als würde sie mich nicht sehen, bilde ich mir ein, dass sie ganz allein für mich läuft.
Sie hat sich »C’est l’Amour« von Edith Piaf als Begleitmusik ausgesucht, und kaum beginnt das Lied - ein unbegleitetes Piano-Intro aus den Lautsprecherboxen über unseren Köpfen -, kauert sie sich flach auf das Eis, zusammengesunken zu einem Nichts, bevor sie sich öffnet wie eine aus dem Nirgendwo gewachsene Blume …
Zum Klavier gesellen sich Streicher, dann die Stimme der Piaf:
C’est l’amour qui fait qu’on aime
C’est l’amour qui fait rever
C’est l’amour qui veut qu’on s’aime
C’est l’amour qui fait pleurer …
Eine beidfüßige Drehung, ein Toeloop, ein halber Loop, ein Salchow, dann die Biellman-Pirouette mit angewinkeltem Knie.
Jedes Mal, wenn sie auf die Bande der Eisbahn zugesaust kommt, bleibt mir fast das Herz stehen.
Die zweite Strophe, ein Stakkato, sanft aber beharrlich, die Streicher beinahe pizzicato:
Mais tous ceux qui croient qu’ils s’aiment
Ceux qui font semblant d’aimer
Qui, tous ceux qui croient qu’ils s’aiment
Ne pourront jamais pleurer …
Die fliegende Ouvertüre zum Death Drop, dann ein Ballettsprung, Sarah mit dem Gesicht nach außen, während sie rückwärts gleitend die linke Fußspitze auftippt und mit dem rechten Bein abspringt …
Die dritte Strophe, die Bläsergruppe unterstreicht das Crescendo der Piaf’schen Gefühle:
Et ceux qui n’ont pas des larmes
Ne pourront jamais aimer …
Und während ich Sarah beobachte, frage ich mich, ob sie je die Chance bekommen wird zu verstehen, was passiert ist und warum es passiert ist und wie es zu einer solchen Entscheidung gekommen ist. Weil wir es deshalb getan haben. Deshalb haben wir das alles getan.
Später, eine Stunde später vielleicht, sitze ich in einem Imbissrestaurant an der Ecke Franklin Avenue NW. Ich schlürfe meinen Kaffee, habe zum ersten Mal seit Jahren das Verlangen nach einer Zigarette. Ein Gefühl des nahenden Endes beschleicht mich, und ich versuche noch einmal, mich davon zu überzeugen, dass alles, was ich getan habe, gute Gründe hatte. Ich weiß, es ist eine Lüge, aber ich muss versuchen, diese Lüge zu glauben. Wenn nicht für mich, dann für Margaret Mosley, Ann Rayner und Barbara Lee. Auch für Catherine muss ich daran glauben, und nicht zuletzt für Sarah.
Ich denke an die Jahre, die Catherine und ich da unten verbracht haben. An die Lektionen, die wir gelernt haben, und an die, die wir nicht gelernt haben. Ich erinnere mich an die Hitze, den Wahnsinn, das Gefühl der Entfremdung, das Wissen
darum, dass wir die Außenseiter waren, die Unerwünschten, die Verachteten. Was wir da unten getan haben, stand in keiner Zeitung. Was wir gesehen haben, kam auf keiner Wahlversammlung, in keinem Kongressausschuss zur Sprache, wurde bei keiner Beschluss- und Ratifizierungsdebatte der Vereinten Nationen als nächster Punkt auf die Tagesordnung gesetzt. Was wir getan haben, waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Namen des - ja, in wessen Namen eigentlich? Vielleicht habe ich das Warum vergessen. Vielleicht war es uns auch nie richtig erklärt worden. Wir wurden ausgebildet und haben getan, was man uns beigebracht hatte, und was man mir in Langley beigebracht hatte, hielt mich da unten am Leben.
Irgendwann werde ich mir über all das Gedanken machen. Nicht heute. Heute sitze ich hier und trinke meinen Kaffee. Ich schließe die Augen und rufe mir die Bilder von Sarah ins Gedächtnis, wie sie springt, sich dreht, trippelt und das Eis mit ihrer beinahe zu vollkommenen Anmut ziert. Ich höre die von
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