Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
Meinung dazu hören.«
»Nichts lieber als das«, freute ich mich und schloss vorsichtig den Deckel wieder. Ich hatte gelernt, dass Henry bei seinem nächsten Besuch bei uns der Leidtragende sein würde, wenn ich nicht bis nach dem Abendessen wartete – und mit meinen Geschwistern teilte. »Danke schön.«
»Und, ähm …« Henry zog einen kleinen Plastikbeutel mit Keksen aus dem Rucksack. »Die hier sind für deinen Vater. Mit zwei Sorten Schokolade, vorhin frisch gebacken.«
»Danke«, sagte ich und stellte den kleinen Beutel neben meine Schachtel. In meinem Hals machte sich der inzwischen schon bekannte Kloß breit. Nachdem ich Henry davon erzählt hatte, dass mein Vater kaum noch etwas aß, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, dem entgegenzuarbeiten (in Kooperation mit seinem Vater, wie ich später erfuhr), indem er versuchte, das Gebäck zu finden, das den Appetit meines Vaters wieder anregen würde. Doch trotz aller Anstrengungen schien das nicht zu funktionieren. Mein Vater zeigte sich zwar jedes Mal riesig begeistert über seine Leckereien, aß ein oder zwei Bissen davon und behauptete dann, dass sie ja viel zu lecker waren, um sie ganz alleine zu verdrücken.
Der Zustand meines Vaters war im Prinzip unverändert, was vor allem hieß, dass er jeden Tag ein bisschen schlechter wurde. Eigentlich bemerkte man es kaum – erst wenn ich zurückdachte, fiel mir auf, dass er letzte Woche um diese Zeit noch nicht vom Nachmittag bis zum Abendessen durchgeschlafen hatte und zum Treppensteigen weder Warrens Hilfe noch meine Mom hinter sich brauchte, die ihn notfalls auffangen konnte, falls er das Gleichgewicht verlieren sollte. Er las nicht mehr bis tief in die Nacht, und seine Stimme, die man sonst im ganzen Haus hören konnte, war noch schwächer geworden, sodass man ihn manchmal selbst am Esstisch kaum verstand.
Wir gingen immer noch zweimal in der Woche zusammen frühstücken, auch wenn er sich inzwischen nur noch Toast bestellte und selbst davon nur wenige Bissen aß – egal, wie sehr Angela ihn ausschimpfte. Trotzdem setzten wir unser Frage-Antwort-Spiel fort. Wie es passiert war, weiß ich auch nicht mehr, jedenfalls hatten wir die Fragen auf den bedruckten Tischsets abgehakt und angefangen, einfach so zu reden. Natürlich hatte ich meinen Vater schon immer gern gehabt – obwohl ich noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden hatte, ihm das auch zu sagen. Aber erst bei unseren Frühstücksgesprächen lernte ich ihn wirklich kennen.
Ich erfuhr, wie er in seinem ersten Job nach dem Jurastudium fast gefeuert wurde, hörte von seiner Europareise, die er nach dem College unternahm, und wie er sich auf den ersten Blick in meine Mutter verliebte. Aber das, was mich am meisten überraschte, hatte er mir vor zwei Tagen erzählt. Wir unterhielten uns über unsere gemeinsame Vergangenheit und die ganzen Kindheitserlebnisse, die ich schon nicht mehr hören konnte. Erst jetzt, als die Tage mit meinem Vater plötzlich gezählt waren, begriff ich, wie kostbar diese Erinnerungen waren. Zahllose Momente, die ich einfach als gegeben hingenommen hatte – hauptsächlich deshalb, weil ich davon ausgegangen war, dass es noch zahllose mehr davon geben würde. Mein Vater hatte gerade die Geschichte zu Ende erzählt (obwohl ich sie mindestens schon zwanzig Mal gehört hatte), wie ich mit sechs an einem dieser Girls’ Days in seiner Kanzlei ein wichtiges Beweisdokument über und über bekritzelt hatte. Da wurde er plötzlich ernst und sah mich über den Rand seiner Kaffeetasse an.
»Aber es gibt eine Geschichte, die du garantiert noch nicht kennst«, sagte er. Er war dünner als je zuvor und der Gelbton seiner Haut wurde immer dunkler, als ob im Solarium etwas gewaltig schiefgegangen war. Im Kontrast dazu sahen seine Zähne geradezu erschreckend weiß aus.
An die körperlichen Veränderungen, die bei meinem Vater so rasant vor sich gingen, hatte ich mich immer noch nicht gewöhnt. Sie waren der sichtbare Beweis, dass etwas sehr, sehr Schlimmes in ihm vorging. Etwas, das erst aufhören würde, wenn es ihn umgebracht hatte.
Trotzdem wurden mir diese Veränderungen immer erst so richtig bewusst, wenn ich einen Beweis dafür sah, auf einem Foto zum Beispiel, oder wenn mir auffiel, wie die Leute ihn anschauten. Mein Vater zog allmählich Aufmerksamkeit auf sich, auf eine Weise, die mich zugleich verlegen und wütend machte und meinen Beschützerinstinkt weckte. Die Leute im Frühstücksrestaurant starrten ihn irgendwie ein
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