Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
noch so aus wie früher.«
»Das dürfte in besagtem letzten Sommer gewesen sein, oder?«, fragte Henry und sah mich an. »Als wir zwölf waren.«
Ich nickte und starrte geradeaus in die schwankenden und sich biegenden Bäume. »Wahrscheinlich.« Ich weiß nicht, ob es an der aufwühlenden Wirkung des Gewitters oder an meinem Gespräch mit Lucy lag, jedenfalls fragte ich plötzlich ohne nachzudenken: »Denkst du eigentlich noch manchmal an den Sommer damals? Ich meine, als wir …« Ich verstummte und suchte nach dem richtigen Wort.
»Als wir zusammen waren?«, beendete Henry den Satz für mich. Ich sah ihn an und musste feststellen, dass sein Blick immer noch auf mir ruhte. »Ja, klar.«
»Ich auch«, sagte ich. Mir fehlte der Mut, ihm zu gestehen, was mir bei Gelseys Pyjamaparty klar geworden war: wie sehr mich unsere ersten Gehversuche in Sachen Liebe beschäftigt hatten. Wahrscheinlich konnte man nur an dieses eine, allererste Mal ganz unbefangen herangehen, ohne Altlasten und ohne das Wissen wie sehr man verletzt werden oder andere verletzen konnte.
»Ich meine«, sagte Henry, »immerhin warst du meine erste Freundin.«
Darüber musste ich lächeln. »Und seitdem hat es jede Menge andere gegeben, schätze ich mal?«
»Unmengen«, antwortete Henry mit ernster Miene, die mich zum Lachen brachte. »Ich hab voll den Überblick verloren.«
»Gleichfalls«, konterte ich trocken – in der Hoffnung, dass er den Witz verstand. Denn außer meinem auf Seitensprünge stehenden Ex Evan und zwei eher flüchtigen Beziehungen in der Zehnten gab es da nichts Nennenswertes zu berichten.
»Weißt du«, fügte Henry kurz darauf hinzu, »ich hab dich echt total gern gehabt damals.«
Ich holte tief Luft. »Ich hätte dir das nicht antun dürfen«, sagte ich. »Ich hätte nicht einfach so abhauen sollen. Das tut mir wirklich sehr, sehr leid.«
Er nickte. »Ich hatte halt keine Ahnung, was eigentlich abging. Ich wusste nicht, ob ich irgendwas falsch gemacht hatte …«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Das war alles nur meine Schuld. Ich hab leider so ’ne Tendenz … abzuhauen, wenn’s irgendwie zu viel wird.« Ich zuckte die Schultern. »Aber ich arbeite dran.«
»Ich konnte es echt nicht fassen, als du wieder am Steg aufgetaucht warst«, meinte er lachend. »Am Anfang dachte ich ja, ich halluziniere.«
»Ging mir genauso«, gab ich zu. »Ich dachte, du würdest nie wieder mit mir reden.«
»Hab ich versucht«, erinnerte er mich, und ich musste wieder lächeln. »Aber ehrlich gesagt«, fuhr er fort und sah mich aufmerksam an, »kommt man von dir nicht so leicht los.«
Ich sah ihm in die Augen und spürte, wie mein Herz in einen schnelleren Takt wechselte. Die Atmosphäre zwischen uns hatte sich auf einen Schlag verändert, und es kam mir so vor, als ob wir gerade an einer Weggabelung standen. Beide Richtungen waren möglich, aber wir mussten uns entscheiden.
Langsam, Stück für Stück, kam Henry immer näher. Ganz sachte berührte er meine Hand, sodass mich eine Gänsehaut überkam, obwohl mir gar nicht mehr kalt war. Dann nahm er meine Hand und schaute mir fragend in die Augen, ob das in Ordnung war. Aber es war mehr als das, wie er hoffentlich spüren konnte. Henry war mir jetzt ganz nahe. Er schob meine Kapuze zurück, und es war mir völlig egal, wie meine Haare aussahen. Er legte seine Hand auf meine Wange und streichelte sie zart mit seinem Daumen. Wieder erschauerte ich. Und dann beugte er sich noch näher zu mir, sodass wir nur noch einen winzigen Hauch voneinander entfernt waren. Mein Herz hämmerte wie wild, und ich schloss die Augen. Und während rings herum Wind und Regen peitschten, küsste er mich.
Anfangs nur ganz vorsichtig – seine Lippen waren auf meinem Mund kaum zu spüren. Danach wich er ein Stück zurück, umfasste mein Kinn und küsste mich noch einmal.
Diesmal allerdings weniger zaghaft, und ich erwiderte seinen Kuss, der sich vertraut und ganz neu zugleich anfühlte und mich an den Kuss vor fünf Jahren erinnerte. Dabei fühlte ich mich, als ob es der allererste Kuss meines Lebens war. Vielleicht hatte Lucy ja doch unrecht mit ihrer Behauptung – vielleicht gab es den perfekten Moment manchmal ja doch. Er umarmte mich und zog mich an sich, und auch ich legte meine Arme um seinen Hals, fuhr mit den Händen über sein Gesicht und konnte gar nicht mehr aufhören, ihn zu berühren. Während wir uns hoch oben in den Bäumen küssten, ließ der Regen allmählich nach, bis
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