Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
bisschen zu lange an, und wenn ich dann ihren Blick erwiderte, betrachteten sie plötzlich ganz interessiert ihr Spiegelei.
»Und das wäre?«, fragte ich und schob meine Tasse an den Rand des Tisches, damit Angela sie wieder auffüllte, wenn sie das nächste Mal vorbeikam. Eigentlich wollte ich gar keinen Kaffee mehr, aber je voller meine Tasse war, umso mehr Zeit blieb uns hier. Diese Vormittage waren die einzige Zeit, die ich mit meinem Vater allein verbringen konnte, und inzwischen versuchte ich sie immer mehr auszudehnen.
Lächelnd lehnte sich mein Dad auf seinem Platz zurück, obwohl er dabei ein bisschen das Gesicht verzog. »Als du gerade geboren warst«, erzählte er, »bin ich ständig in dein Zimmer geschlichen und hab dich beim Schlafen beobachtet. Ich hatte furchtbare Angst, dass du nicht atmen würdest.«
»Wirklich?«, fragte ich. Davon hatte ich noch nie gehört, und als mittleres von drei Kindern hatte ich nur wenige Geschichten, in denen es einzig und allein um mich ging, weshalb ich mir fast sicher war, sie alle schon gehört zu haben.
»Oh ja«, sagte mein Dad. »Bei deinem Bruder brauchten wir uns darum nie Gedanken zu machen. Der hat alle paar Sekunden geschrien. Ich glaube, deine arme Mutter hat im ersten Jahr kaum mal länger als fünf Stunden Schlaf gekriegt. Aber du hast sofort die ganze Nacht durchgeschlafen. Und das hat mir Angst gemacht.«
Angela kam mit ihrer Kanne, füllte meine Tasse nach und schob meinem Vater den Toast hin, als ob er nur deshalb nichts gegessen hatte, weil er dessen Gegenwart nicht bemerkt hatte.
»Also hab ich einfach nur bei dir in der Tür gestanden«, fuhr er fort und nahm einen Schluck von seinem Kaffee, »und hab dir beim Atmen zugehört. Nur um sicherzugehen, dass du noch bei uns warst. Ich hab einfach deine Atemzüge gezählt, bis ich überzeugt war, dass mit dir alles okay war.«
Dann brachte Angela die Rechnung, und wir redeten überandere Sachen – wie er nach der Highschool durchs Land gereist war und sich in Missouri total verfahren hatte, oder wie ich der Wahrheit über den Weihnachtsmann auf die Schliche gekommen war, weil mir nämlich aufgefallen war, dass er dieGeschenke genauso einpackte wie mein Vater – ein bisschen nachlässig und mit Malerkrepp zugeklebt. Doch das Bild, wie er bei mir in der Tür stand und in meinen ersten Lebenswochen meine Atemzüge überwachte, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen.
Jetzt allerdings saß ich mit Henry auf dem Steg in der Sonne und alles andere schien weit weg zu sein. »Mal sehen, ob es damit klappt«, sagte ich und schob die Kekse beiseite. Nachdem ich den Weg freigeräumt hatte, beugte ich mich hinüber zu ihm und gab ihm noch einen Kuss. Mit das Beste am Küssen mit Henry war, dass ich dabei den Rest der Welt – zum Beispiel meinen Vater und seine Krankheit – für einen Moment ausblenden konnte. Es war zwar nie völlig weg, aber wie bei einem Fernseher, den man aus dem Nebenraum hört, schaffte ich es, weniger darüber nachzudenken, wenn ich Henrys Lippen auf meinen spürte und er seine Arme um mich gelegt hatte.
»Sag mal«, sagte Henry etwas später. Wir machten gerade eine Pause, hatten uns zusammen ausgestreckt, und ich lag an meiner Lieblingsstelle, die wie für mich gemacht war. Sein Arm lag um meine Schultern, mein Kopf ruhte auf seiner Brust, ein Bein hatte ich über seins gelegt und unsere Füße waren miteinander verschränkt. »Hast du schon Pläne für den 4. Juli?«
Diese Frage hatte ich nicht erwartet, und ich stützte mich auf, um ihn anzusehen. »Na ja, wahrscheinlich sehen wir uns einfach das Feuerwerk an«, sagte ich. »Von hier aus, denke ich.« Bisher hatte es an dem Tag immer ein Feuerwerk über dem See gegeben und ich hatte es mit meinen Eltern und meinen Geschwistern vom Steg aus beobachtet.
»Gut«, sagte Henry. »Dann nimm dir für danach nichts vor, okay? Ich hab nämlich ’ne Überraschung.«
Ich setzte mich noch weiter auf und sah ihm in die Augen. »Überraschung?«, fragte ich und schaffte es nicht, meine Verwunderung zu verbergen. »Was denn für eine?«
»Lass dir von Warren noch mal die Bedeutung des Wortes Überraschung erklären«, empfahl er, und ich musste lachen. »Dabei wird nämlich vorher nicht verraten, was es ist.«
Wir lagen noch eine Weile zusammen auf dem Steg und sahen der Sonne zu, wie sie langsam unterging und es allmählich dämmerte. Die ersten Glühwürmchen blinkten im Gras. Als eine Mücke mich stach, verscheuchte ich sie, setzte mich
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