Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
Außerdem war ich mit meinem persönlichen Drama in der Schule beschäftigt gewesen, in der festen Überzeugung, dass meine Trennung und deren Auswirkungen das Schlimmste waren, was mir je widerfahren war.
Während ich darüber nachdachte, wie naiv ich doch gewesen war, durchbrach Scheinwerferlicht die Dunkelheit vor unserem Fenster und bewegte sich unsere Einfahrt hinauf. Im nächsten Moment hörte ich das Surren des Garagentors. Gelsey setzte sich auf, Warren stellte den Fernseher auf stumm. In der plötzlichen Stille schauten wir uns kurz an.
»Das ist bestimmt ein gutes Zeichen, dass sie zurück sind, oder?«, fragte Gelsey. Aus irgendeinem Grund schaute sie mich an und erwartete von mir eine Antwort, aber ich sah nur zum Fernseher, wo die Verwicklungen sich gerade auflösten und alles in Friede-Freude-Eierkuchen überging.
Ich hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, und dann stand meine Mutter in der Wohnzimmertür und sah völlig fertig aus.
»Können wir bitte im Esszimmer mit euch sprechen?«, fragte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie wieder.
Als ich vom Sofa aufstand, spürte ich, wie der Klumpen in meinem Magen immer größer wurde. Das sah gar nicht nach Gelseys gutem Zeichen aus, das auch ich mir so sehr gewünscht hatte. Denn gute Nachrichten hätte meine Mutter uns wahrscheinlich auf der Stelle wissen lassen, sagte mir mein Gefühl. Dass sie uns extra ins Esszimmer bestellte, ließ Schlimmes erahnen. Von den wenigen Gelegenheiten im Jahr abgesehen, wo wir dort saßen und erleseneres Essen von besseren Tellern aßen als sonst, diente das Esszimmer eigentlich nur als der Raum, in dem wir Dinge »besprachen«.
Ich folgte also Warren und Gelsey durch die Küche ins Esszimmer, wo mein Vater an seinem üblichen Platz am Ende des Tisches saß und irgendwie kleiner aussah, als ich ihn vor wenigen Tagen noch in Erinnerung hatte. Meine Mutter stand mit einer eckigen weißen Kuchenschachtel in der Hand neben der Kücheninsel und umarmte mich kurz und unbeholfen. In unserer Familie gingen wir nicht besonders freigiebig mit Körperkontakten um, weshalb mich ihre Geste ebenso beunruhigte wie die Vorstellung, uns gleich im Esszimmer ihren Bericht anhören zu müssen.
»Es tut mir so leid wegen deinem Geburtstag, Taylor.« Sie zeigte auf die weiße Schachtel. Auf dem Aufkleber, mit dem sie verschlossen war, stand BILLY’S – meine Lieblings-Cupcake-Bäckerei. »Die hab ich dir mitgebracht, aber vielleicht …« Sie schaute zum Esszimmer und biss sich auf die Lippe. »Vielleicht heben wir sie doch lieber für danach auf.«
Für wonach?, hätte ich am liebsten gefragt, aber während ich wartete, ahnte ich die Antwort immer deutlicher. Als meine Mutter tief Luft holte, bevor sie zu uns hereinkam, schielte ich nach der Haustür. Ich fühlte, wie sich ein nur allzu vertrauter Impuls in mir breitmachte, dieser Drang, der mir suggerierte, dass alles viel leichter wäre, wenn ich einfach abhauen würde – dass ich mich mit nichts von dem hier auseinandersetzen müsste, wenn ich einfach meine Cupcakes nehmen und gehen würde.
Aber natürlich tat ich das nicht. Ich folgte meiner Mutter ins Esszimmer, wo sie nach der Hand meines Vaters griff, uns nacheinander anschaute, tief einatmete und unsere schlimmsten Ängste bestätigte.
Als sie die Worte aussprach, fühlte ich mich wie tief unter Wasser. In meinen Ohren klingelte es, und ich sah reihum alle am Tisch an – Gelsey, die schon weinte, meinen Vater, der so bleich war, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, und Warren, der die Stirn in Falten gelegt hatte, wie er es immer tat, wenn er keine Gefühle zeigen wollte. Ich kniff mich ganz heftig in die Innenseite meines Arms, nur für den Fall, dass ich dadurch vielleicht aus dem Albtraum aufwachte, in den ich hineingeraten war und der irgendwie nicht aufhörte. Aber es half nichts, und ich saß immer noch an unserem Esstisch, als meine Mutter noch mehr furchtbare Wörter aussprach. Krebs. Bauchspeicheldrüse. Stadium IV. Noch vier Monate. Vielleicht weniger.
Als sie fertig war, hatte Gelsey Schluckauf und Warren starrte sehr konzentriert an die Decke, wobei er auffällig oft zwinkerte. Dann sagte mein Vater zum ersten Mal etwas: »Ich denke, wir sollten über diesen Sommer reden.« Seine Stimme klang heiser. Ich schaute ihn an, und er erwiderte meinen Blick. Und plötzlich schämte ich mich, dass ich nicht in Tränen ausgebrochen war wie meine kleine Schwester, sondern nur zu einem
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