Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
vorbei zum Medizinschrank. Darin befanden sich Warrens Kontaktlinsenkram, Gelseys Spangendose und Lippenbalsam-Stifte sowie idiotisch viele Zahnpastatuben.
»Tja, wer zu spät kommt …«, ätzte Warren, der im Eingang stand und das Gefühl von Enge noch verstärkte. »Kannst du dich mal ein bisschen beeilen?«, fragte er Gelsey, die ihn zahnpastaverschmiert angrinste und ihre Putzgeschwindigkeit noch weiter verringerte, was ich eigentlich für unmöglich gehalten hätte.
»Ich wusste ja nicht, dass man sich für einen Platz im Schrank bei euch anmelden muss«, gab ich zurück, schob seine Kontaktlinsenbehälter beiseite und versuchte meinen Gesichtsreiniger und Make-up-Entferner unterzubringen.
Inzwischen war Gelsey endlich fertig mit Zähneputzen, spülte ihre Zahnbüste ab und stellte sie ordentlich in den Becher. »Kannst ja dein Zeug in der Dusche unterbringen«, meinte sie schulterzuckend und schob den dunkelgrün gestreiften Vorhang beiseite, der dort schon hing, seit ich denken konnte. »Da ist bestimmt noch Platz für …« Sie erstarrte und fing an zu kreischen.
Im nächsten Moment sah ich auch den Grund dafür: In der Badewanne hockte eine riesige Spinne. Sie sah aus wie ein Weberknecht, und ich erinnerte mich, wie ich vor langer Zeit mal bei einer Naturexkursion gelernt hatte, dass die völlig harmlos sind. Aber das war natürlich noch lange kein Grund, ein in unserer Badewanne herumlungerndes Exemplar von der ungefähren Größe meines Kopfes possierlich zu finden. Ich wich einen Schritt zurück und stieß dabei gegen Warren, der ebenfalls auf dem Rückzug war.
»Daddy!«, schrie Gelsey und stürzte zur Tür.
Als kurz darauf mein Vater auftauchte, dicht gefolgt von meiner Mutter, drängten wir uns alle drei an der Tür, und ich äugte vorsichtig in Richtung Spinne, falls sie von diesem Fluchtweg auch Gebrauch machen wollte.
»Spinne«, sagte Warren und deutete auf die Wanne. »Pholcidae«. Mein Vater nickte und ging hinein.
»Wirst du sie töten?«, fragte Gelsey hinter dem Rücken meiner Mutter hervor und klang dabei ziemlich melodramatisch.
»Nein, nein«, beruhigte sie mein Vater. »Ich brauche nur ein Blatt Papier und ein Glas.«
»Schon unterwegs«, rief Warren und tauchte kurz darauf mit einer von meinen Zeitschriften und einem Wasserglas wieder auf. Beides reichte er meinem Vater über die Türschwelle, und wir gingen allesamt in Deckung. Das lag allerdings nicht nur an unserer kollektiven Spinnenphobie, sondern auch daran, dass mein Vater das winzige Bad fast komplett ausfüllte. Er hatte das College mit einem Football-Stipendium absolviert und war Linebacker gewesen, die ja bekanntlich ausgesprochen groß und kräftig sind. Obwohl er in letzter Zeit ziemlich abgenommen hatte, war er immer noch groß und breitschultrig und hatte eine dröhnende Stimme, die daran gewöhnt war, sich im Gerichtssaal bei den Geschworenen Gehör zu verschaffen.
Im nächsten Moment kam mein Vater hinter dem Duschvorhang hervor und hielt die Zeitschrift auf das Glass gepresst. Die Spinne krabbelte panisch im Glas herum, kreuz und quer über das Gesicht des Stars, der das Cover zierte. Als Dad sich wieder aufrichtete, verzog er vor Schmerzen das Gesicht, woraufhin meine Mutter ihm Zeitschrift und Glas hastig abnahm und mir in die Hand drückte.
»Taylor, lass sie draußen frei, ja?« Sie ging zu meinem Vater und erkundigte sich leise: »Geht’s, Robin?«
Robin war der vollständige Name meines Vaters, obwohl er immer nur Rob genannt wurde. Robin hatte ich aus dem Mund meiner Mutter immer nur dann gehört, wenn sie wütend oder besorgt war oder wenn mein Großvater uns besuchte.
Mein Vater krümmte sich immer noch, und da ich diesen vollkommen ungewohnten Anblick meines leidenden Vaters nicht aushalten konnte, nahm ich die eingesperrte Spinne samt Zeitschrift und verzog mich eiligst nach draußen.
Ich ging die Eingangstreppe hinunter zur Einfahrt und öffnete dort das Glas. Ich rechnete damit, dass die Spinne umgehend das Weite suchte, beobachtete aber erstaunt, dass sie wie erstarrt auf den Top 10 Beauty-Tipps für diesen Sommer hockte. »Na los«, sagte ich und wackelte ein bisschen mit der Zeitschrift. Da setzte sie sich endlich in Bewegung und krabbelte davon. Ich schüttelte die Zeitschrift noch mal aus und wollte wieder ins Haus gehen, aber als ich an das schmerzverzerrte Gesicht meines Vaters dachte, ließ ich Zeitschrift und Glas im Eingang liegen und lief die Einfahrt entlang in Richtung
Weitere Kostenlose Bücher