Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
dem Schreibtisch hervorkam und schon mal die Tür öffnete – falls ich immer noch nicht gecheckt hatte, dass ich gehen sollte. »Du sollst mir einfach das Leben erleichtern. Ich will eigentlich nur angeln gehen, und zwar ungestört. Wenn du mir dazu verhilfst, machst du deine Sache ganz großartig. Verstanden?«
»Verstanden«, antwortete ich und ging unsicher aus seinem Büro. Er wollte die Tür schließen. »Aber wo soll ich …«
»Fang im Imbiss an«, erwiderte er. »Sieh zu, was dort zu machen ist. Willkommen an Bord!« Damit schloss er die Tür und ließ mich draußen stehen.
Ratlos sah ich mich um, aber mangels anderer Optionen machte ich mich auf den Weg zum Strandimbiss. Früher war ich immer von vorn gekommen – wenn ich meine Eltern um ein bisschen Kleingeld angebettelt oder einen zerknitterten Dollarschein in meiner Strandtasche gefunden hatte und mir eine Cherry Cola holte oder ein Milky-Way-Eis, um es mit Lucy zu teilen. Aber neben Freds Büro, ein paar Türen weiter, gab es einen Eingang, an dem stand: Zutritt nur für Imbiss-Personal. Ich holte tief Luft und ging hinein – in der Hoffnung, dass mir dort jemand genauer sagen konnte, was ich zu tun hatte. Idealerweise ohne Fisch-Anekdoten.
Hinter der Ladentheke war nicht allzu viel Platz, und auchder war ziemlich vollgestellt. An der einen Wand befand sichdie Getränkeanlage, daneben ein riesiger silberner Kühlschrank und zwei Kühltruhen. Dahinter standen Grill und Fritteuse. In einem Regal lagen alle verfügbaren Chipssorten, Plakate informierten über das Eis-Angebot, und auf der Theke gab es einen Behälter mit einzeln verpackten Bonbons für je einen Vierteldollar.
»Nicht bewegen!«, rief plötzlich hinter mir eine Stimme. Ich fuhr herum und sah einen Typen auf der Theke sitzen, der regungslos eine zusammengerollte Zeitung in der erhobenen Hand hielt.
Ich hatte ihn vorher überhaupt nicht bemerkt und jetzt hatte ich vor lauter Schreck Herzrasen. »Hi«, stammelte ich, als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte. »Ich bin …«
»Pssst«, zischte er gedämpft, würdigte mich aber immer noch keines Blickes. »Verscheuch sie nicht.«
Ich erstarrte und versuchte herauszufinden, was er mit der Zeitung vorhatte, sah aber nichts. Plötzlich beschlich mich eine schreckliche Ahnung, die mir den Angstschweiß auf die Stirn trieb, sodass ich am liebsten zu ihm auf die Theke gesprungen wäre. »Eine Maus?«, flüsterte ich und spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam. In diesem Fall hätte ich umgehend den Abgang gemacht, ganz egal was er sagte.
»Nee«, murmelte der Typ auf der Theke und sah immer noch hochkonzentriert aus. »’ne Fliege. Die nervt mich schon den ganzen Morgen. Aber jetzt ist sie fällig.«
»Oh«, sagte ich leise, trat von einem Fuß auf den anderen und fragte mich, wie lange das wohl noch dauern würde – und was wir machen sollten, wenn Kunden kamen. Als wieder Stille herrschte und er sich seiner Fliege widmete, nutzte ich die Gelegenheit, ihn mir genauer anzusehen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ihn vor Ewigkeiten schon mal gesehen zu haben. Aber mehr wollte mir beim besten Willen nicht einfallen. Auf jeden Fall war er nicht allzu groß und leicht untersetzt. Er trug eine coole Nerd-Brille und hatte ganz kurze braune Haare. »Gleich hab ich dich«, flüsterte der Typ plötzlich und beugte sich vor, die Zeitung im Anschlag. »Nicht bewegen und …«
»Mann, das war vielleicht krass!« Krachend flog die Tür auf, sodass der Typ und ich zusammenzuckten und die Fliege sich vermutlich aus dem Staub machte. Ein Mädchen fegte herein, hängte ihre Tasche an einen Haken um die Ecke und war sichtbar außer sich. Ich sah nur ihre langen dunklen Haare und das violette T-Shirt, und in dem Moment schwante mir Schlimmes. »Du glaubst ja nicht, was mir heute früh passiert ist. Ich fahr so zur Arbeit und bin total in Gedanken, als so ’ne abgedrehte Zicke …« Sie kam wieder um die Ecke, sah uns an und erstarrte bei meinem Anblick.
Mir ging es genauso. Vor mir stand die Radfahrerin im violetten T-Shirt, die ich am frühen Morgen fast umgefahren hatte und die mir den Stinkefinger gezeigt hatte.
Und rein zufällig handelte es sich dabei um Lucy Marino, meine ehemals beste Freundin.
Kapitel 10
Sprachlos starrte ich sie an. Wie schon bei Henry dauerte es eine Weile, bis ich mein Bild von der zwölfjährigen Lucy mit ihrer aktuellen Version unter einen Hut gebracht hatte. Als Kinder waren wir beide ungefähr gleich groß
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