Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
und nach einem Moment war sie wieder dran. »Handy runtergefallen«, erklärte sie. »Also, du musst unbedingt zum Strand kommen.«
Ich setzte mich auf. »Wieso?« Ein Schreck durchfuhr mich. Vielleicht hatte ich den Imbissstand nicht ordentlich abgeschlossen oder so. Obwohl ich keinen Grund sah, dass Lucy mich deshalb offensichtlich angetrunken anrief. »Ist alles in Ordnung?«
»Würde ich dich anrufen, wenn alles in Ordnung wäre?«, beschwerte sie sich. »Jetzt komm einfach her und …« Wieder war das Rascheln zu hören und dann war die Leitung tot.
Ich hielt das Telefon in der Hand und dachte nach. Ich musste runter zum Strand fahren – die Variante, es bleiben zu lassen, verwarf ich augenblicklich, denn mir war klar, dass ich in dem Fall mit Sicherheit nicht mehr einschlafen konnte, weil ich dann nur noch darüber nachdenken würde, was da unten am Strand vor sich ging. Aber vor allem überlegte ich fieberhaft, wie ich dahin kommen sollte. Wenn ich eins von den Autos nahm, würde meine Mutter garantiert aufwachen – ganz zu schweigen von meinem Vater und meinen Geschwistern. Und obwohl wir die Ausgangszeiten für diesen Sommer noch nicht besprochen hatten, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie es sonderlich entspannt aufnehmen würden, wenn ich um zwei Uhr morgens mit dem Auto losfuhr. Ich ließ meinen Blick nach draußen schweifen, wo ich am Ende der Einfahrt die Garage erkennen konnte. Und das brachte mich auf eine Idee. Eilig stand ich auf, zog meine kurze Jeans an und tauschte mein riesiges verwaschenes Schlafshirt gegen ein Tanktop. Dann schlich ich auf Zehenspitzen in den Flur, wobei ich angestrengt auf irgendwelche Anzeichen von Bewegung lauschte. Doch das Haus war ganz still – keine Tür, unter der Licht hervorschien, und kein Geräusch von oben, wo das Elternschlafzimmer war. Selbst der Hund war völlig weggetreten – er lag in seinem Körbchen auf dem Rücken und sein Hinterbein zuckte gelegentlich, als ob er im Schlaf etwas jagte oder gejagt wurde.
Ich durchquerte den großen Wohnraum im Erdgeschoss, wofür ich keine Lampen anzuschalten brauchte, denn der Mond schien hell durch die Fenster auf der Straßenseite und warf riesige Rechtecke aus Licht auf den Fußboden. Auf dem Weg zur Haustür überquerte ich eins davon und war beinahe erstaunt, dass es sich nicht warm anfühlte wie Sonnenlicht. Leise schlich ich aus der Tür, schloss hinter mir ab und fischte meine Flip-Flops aus dem wilden Schuhhaufen. Dann stieg ich ganz leise die Eingangstreppe hinunter und pirschte mich bis zur Garage, wo mein Fahrrad – das mein Vater extra für mich repariert hatte – auf mich wartete.
Kapitel 19
Fünf Sommer zuvor
»Ich hab Neuigkeiten«, meinte Lucy am Telefon. Das war ihre bevorzugte Einleitung zu einem Thema, selbst wenn diese Neuigkeiten total unspektakulär waren, wie zum Beispiel die Eissorte der Woche bei Jane oder ein aus zwei Sorten zur Wunschfarbe gemixter Nagellack.
»Ich auch«, antwortete ich und konnte ein breites Grinsen nicht verhindern. Ich klemmte mir das Schnurlostelefon ans Ohr und ging hinaus auf die Veranda, da ich die Reichweite des Mobilteils exakt kannte. Das Abendessen war vorbei und meine Mutter bereitete gerade das Risiko-Spielbrett vor. Mir blieben also noch ein paar Minuten Zeit, um ungestört mit Lucy zu telefonieren – vor allem weil Warren meiner Mutter permanent gute Ratschläge geben musste.
Bisher hatte ich Lucy noch nichts von meinem Kino-Date der vorigen Woche mit Henry erzählt, denn bis auf den Moment, wo er meine Hand genommen hatte, gab es da eigentlich auch nichts weiter zu berichten. Aber er hatte meine Hand bis zum Schluss nicht wieder losgelassen, und wir blieben so sitzen, Handfläche an Handfläche und mit verschränkten Fingern, bis der Abspann vorbei war, das Licht wieder anging und die Popcornreste zusammengekehrt wurden. Natürlich hatte ich Lucy hinterher sofort angerufen, aber sie war nie zu Hause, egal bei welchem Elternteil ich anrief. Und ihr Handy war abgemeldet, weil ihre Eltern sich nicht einigen konnten, wer es bezahlen sollte. Also wartete ich darauf, dass Lucy mich endlich anrief und ich mit ihr reden konnte.
»Ich zuerst«, sagte sie. Ich musste lachen und merkte in diesem Moment mal wieder, wie sehr sie mir eigentlich fehlte.
»Taylor!« Warren riss die Tür auf und sah mich finster an. Dabei schob er seine Brille zurecht, die ihm ständig von der Nase rutschte. »Wir wollten doch mit dem Spiel anfangen.«
Ich hielt die
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