Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
als sie dachte, dass niemand hinschaute. Aber für einen Außenstehenden musste es so aussehen, als ob Warren Murphys größter Fan war, denn es verging nahezu kein Tag, ohne dass er ihm einen Leckerbissen mitbrachte, oder noch ein Quietschtier, oder einen besonders leckeren Kauknochen. Doch ich wusste, dass das, genauso wie seine plötzliche Begeisterung für die Tiermedizin, nicht auf seine Zuneigung zu dem Hund zurückzuführen war, sondern einzig und allein auf Wendy, die im HundeLeben arbeitete.
»Und …«, setzte Warren wieder an, doch diesmal stützte ich mich auf die Ellbogen und schüttelte sehr energisch den Kopf.
»Nein«, sagte ich entschieden und schob meine Sonnenbrille nach oben auf die Stirn. »Bitte keine Tierarztgeschichten mehr. Es reicht. Geh Gelsey damit quälen.«
Kurzzeitig wirkte Warren beleidigt, doch dann seufzte er nur und zuckte die Schultern. »Geht nicht«, sagte er. »Die ist mit ihrer besseren Hälfte unterwegs.«
Mit einem breiten Lächeln ließ ich mich zurück auf mein Handtuch sinken. Gelsey und Nora hatten sich schnell zu einer Einheit zusammengefunden, was Noras Eltern offenbar sehr gefiel. Eines Abends waren sie auf einen Sprung zu uns rübergekommen, um Hallo zu sagen und ihre Tochter abzuholen, und dabei hatten sie erzählt, dass sie bald Abgabetermin für ein Drehbuch hatten, an dem sie arbeiteten, und dass sie deshalb nicht besonders viel Zeit hatten, sich um ihre Tochter zu kümmern. Aber das war gar nicht mehr so schlimm, denn Gelsey und Nora erwiesen sich unmittelbar nach ihrer ersten Begegnung als so ziemlich unzertrennlich. Sie hatten es geschafft, in dieselbe Tennisgruppe zu kommen, und wenn sie nicht ihrem Tennislehrer auf die Nerven fielen, waren sie von morgens an mit ihren Fahrrädern unterwegs, zum Freibad oder zum Strand. Und Abend für Abend plapperte Gelsey über das, was Nora gesagt hatte, wie Nora in Los Angeles lebte, was für Abenteuer Nora erlebt hatte. Und wenn ich ihr beim Abendessen so zuhörte, wurde mir klar, dass Gelsey gerade ihre allererste beste Freundin gefunden hatte. »Okay, dann unterhalte eben Mom oder Dad damit«, sagte ich zu Warren, drehte meinen Kopf zur Seite und machte die Augen zu. »Ich hab nämlich genug.«
Da drang das Piepen eines rückwärtsfahrenden Lasters zu uns herüber. Ich setzte mich auf, um zu sehen, was bei uns in der Einfahrt los war, auch wenn unsere Veranda mehr oder weniger den Blick versperrte. »FedEx?«, wunderte ich mich, und auch Warren drehte sich um und versuchte etwas zu erkennen.
»UPS«, berichtigte er kopfschüttelnd. »FedEx war heute früh doch schon da.«
Zusätzlich zu den Paketen aus seinem Büro bekam mein Vater jetzt ständig irgendwelche Lieferungen, denn er hatte angefangen, wie verrückt die verschiedensten Sachen zu bestellen. Es sah aus, als ob jeden Tag mehrere Sendungen eintrafen – Bücher, DVDs, Schokolade aus Belgien, in Trockeneis gepackte Steaks aus Omaha, Nebraska.
Er stand unverändert morgens zeitig auf, und wir waren inzwischen noch zweimal zusammen frühstücken gewesen, komplett mit Fünf-Fragen-Quiz. (Auf diese Weise hatte ich erfahren, dass er Astronaut werden wollte, als er ein kleiner Junge war, dass er Gerichte mit weißen Bohnen nicht ausstehen konnte und dass er, nachdem er meine Mutter kennengelernt hatte, einen Monat lang jeden Abend ins Ballett gegangen war, um sein fehlendes Wissen auf diesem Gebiet auszugleichen.) Abends nach dem Essen trafen wir uns immer im Wohnzimmer, um uns einen Film anzusehen, und meistens war Dad, wenn ich schlafen ging, noch auf und las – umgeben von beständig wachsenden Bücherstapeln.
Vor einigen Tagen konnte ich nicht schlafen und war nachts in die Küche geschlichen, um einen Schluck Wasser zu trinken, aber eigentlich hatte ich mehr Langeweile als Durst. Und da lag er auf einem der Sofas, während die Glut des verlöschenden Feuers noch im Kamin knisterte. Der Hund schlief zu seinen Füßen, er hatte seine Lesebrille auf und hielt ein dickes Buch auf seine Brust gestützt.
»Hallo«, flüsterte ich. Mein Vater drehte den Kopf, lächelte und nahm seine Brille ab, als er mich sah.
»Hallo, Kleines«, sagte er leise. »Kannst du nicht schlafen?«
Ich schüttelte den Kopf, setzte mich auf das Sofa ihm gegenüber und versuchte den Titel seines Buches zu erkennen. »Was liest du gerade?«, fragte ich ihn.
»T.S. Elliot«, antwortete er und hielt sein Buch hoch, sodass ich es sehen konnte. Auf dem Einband war das Schwarz-Weiß-Foto
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