Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
murmelte ich. »Ist ’ne lange Geschichte.« Ich machte noch einen Schritt auf meine Tür zu, in der Hoffnung, dass sie mir folgte. Aber Lucy sah sich mit halb offenem Mund immer noch um. Ich ahnte, dass es ihr genauso ging wie mir, als ich hier angekommen war – dass sie sich vorkam wie in einer komischen Art von Zeitmaschine, wo sich seit fünf Jahren nichts mehr verändert hatte. Wären wir jedes Jahr hier gewesen, hätte sich das Haus zweifellos mit uns zusammen verändert, aber so war es wie konserviert in dem Zustand, in dem sie es das letzte Mal gesehen hatte – als wir noch viel jünger waren und beste Freundinnen. »Lucy«, sagte ich noch einmal etwas lauter, was sie schließlich aus ihrer Träumerei, oder worin auch immer sie gerade versunken war, aufweckte.
Sie nickte und kam mir nach, doch auf halber Strecke blieb sie noch einmal stehen. »Das glaub ich einfach nicht«, murmelte sie. Sie zeigte auf eins der gerahmten Fotos, die im Flur an der Wand hingen, auf dem Lucy und ich als Zehnjährige in die Kamera grinsten, die Münder von dem Eis am Stiel, das wir zweifellos gerade verdrückt hatten, rot und lila verschmiert.
»Ich weiß«, sagte ich leise und stellte mich neben sie. »Das ist so ewig her.«
»Verdammt lange«, bekräftigte sie. »Wahnsinn. Ich fass es nicht.«
Ich betrachtete uns beide auf dem Foto, wie wir nebeneinander standen, gegenseitig die Arme locker um die Schulter gelegt. Im Glas des Bilderrahmens sah ich unser Spiegelbild, wie wir jetzt aussahen, sieben Jahre älter und fast einen Meter voneinander entfernt stehend. Nachdem sie unser Foto noch eine Weile betrachtet hatte, ging Lucy weiter. Und erst, als sie die Tür zu meinem Zimmer aufmachte, fiel mir ein, dass ich ihr den Weg ja gar nicht zu zeigen brauchte – dass es eine Zeit gegeben hatte, als sie mein Zuhause so gut kannte wie ihr eigenes.
Lucy zog die Sachen – T-Shirt und Shorts – an, die ich ihr rausgesucht hatte. Außerdem hatte ich ihr das Ausziehbett mit der Reservebettwäsche aus unserem Wäscheschrank bezogen. Als sie aus dem Badezimmer wiederkam, hatte ich mich ebenfalls umgezogen und in dem Moment hatte ich ein ganz heftiges Déjà-vu-Erlebnis. So viele Male hatte ich an genau dieser Stelle gesessen, während Lucy im Ausziehbett lag und zu mir hochsah. Wir hatten uns immer noch stundenlang unterhalten, wenn schon längst Schlafenszeit für uns war. Und jetzt lag sie wieder hier, genauso wie damals, nur mit dem Unterschied, dass inzwischen alles anders war. »Das ist echt ein komisches Gefühl«, flüsterte ich, während sie es sich bequem machte und die Decke bis zum Hals zog.
Sie drehte sich auf die Seite, um mich anzusehen, und dabei umarmte sie das Kissen auf haargenau dieselbe Weise, wie sie es mit zwölf gemacht hatte. »Ich weiß«, nickte sie.
Ich starrte hinauf an die Zimmerdecke. Plötzlich fühlte ich mich eigenartig unwohl in meinem eigenen Zimmer und jede meiner Bewegungen war mir überdeutlich bewusst.
»Danke für vorhin«, sagte sie an einem gigantischen Gähnen vorbei. Ich lugte über meine Bettkante hinweg und sah, dass ihr die Augen zufielen. Ihre dunklen Haare lagen wie ein Fächer auf dem weißen Kopfkissenbezug. »Du hast mir echt den Arsch gerettet.«
»Kein Problem«, erwiderte ich. Ich wartete noch ein bisschen, um zu sehen, ob sie reden wollte – über die Enttäuschung mit Stephen oder was an dem Abend passiert war. Doch ihr Atem wurde immer ruhiger und gleichmäßiger und ich erinnerte mich wieder, dass Lucy früher meistens vor mir eingeschlafen war. Darum, dass sie so einfach in null Komma nichts einschlafen konnte, hatte ich sie immer beneidet, während ich gefühlt manchmal Stunden brauchte, bis ich endlich wegdämmerte. Ich legte den Kopf wieder auf mein Kissen und schloss die Augen, obwohl ich den starken Verdacht hatte, dass ich nicht so einfach einschlafen würde.
Aber noch ehe ich weiter darüber nachgedachte hatte, strömte helles Tageslicht durch mein Fenster, und als ich mich aufsetzte, sah ich die Sachen, die ich Lucy geliehen hatte, ordentlich zusammengelegt auf ihrem Bett liegen. Obendrauf lag die am oberen Rand zusammengerollte Tüte mit den Skittles. Und als ich sie aufmachte und neugierig hineinsah, waren darin nur noch die Geschmacksrichtungen, die ich immer am liebsten gehabt hatte.
Kapitel 21
Fünf Sommer zuvor
Ich wachte mit dem Plüschpinguin im Arm auf, der immer noch leicht nach Krapfen und Zuckerwatte roch. Ich zupfte seinen Schal glatt und
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