Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
eines traurig dreinschauenden Mannes abgebildet. »Kennst du das?« Ich verneinte und er setzte das Buch wieder auf seiner Brust ab. »The Love Song of J. Alfred Prufrock«, las er vor. »Ich weiß noch, dass das am College mein Lieblingsgedicht war.« Er rückte seine Brille wieder zurecht und betrachtete eingehend den Text. »Warum das so war, hab ich vergessen, aber im Studium mochte ich es am liebsten.«
Darüber musste ich lächeln, rollte mich auf dem Sofa zusammen und legte den Kopf auf das gelbe Zierkissen, das sich kratzig unter meiner Wange anfühlte. Es war so friedvoll hier – das gelegentliche Knistern des verlöschenden Feuers, das gleichmäßige, ab und zu durch Schnarchen unterbrochene Atmen des Hundes, die Anwesenheit meines Vaters –, dass ich keinerlei Bedürfnis verspürte, wieder in mein Zimmer zu gehen.
»Willst du was davon hören?«, fragte mein Vater und schaute über den Buchrand hinweg zu mir. Ich nickte und versuchte mich zu erinnern, wie lange es her war, dass mir jemand vorgelesen hatte. Früher war ich immer ganz versessen darauf gewesen, dass mein Vater mir etwas vorlas, obwohl er an den meisten Abenden erst nach Hause kam, wenn ich schon längst im Bett war. Aber wenn er mal da war, dann wollte ich nur von ihm eine Geschichte hören, denn im Gegensatz zu meiner Mutter baute er immer noch zusätzliche Details ein, wie beispielsweise die Überlegung, dass Hänsel und Gretel sich ja des widerrechtlichen Betretens eines Grundstücks und der vorsätzlichen Sachbeschädigung schuldig gemacht hatten, oder dass die drei kleinen Schweinchen gegen den großen bösen Wolf rechtliche Schritte wegen Belästigung hätten einlegen können. »Also, pass auf.« Er räusperte sich und fing an vorzulesen, wobei seine Stimme irgendwie schwächer klang als der tiefe, dröhnende Bariton, den ich eigentlich mit ihm verband. Aber das lag sicher nur daran, dass er versuchte, leise zu sprechen, um nicht das ganze Haus aufzuwecken, sagte ich mir. Dann schloss ich die Augen und ließ mich von den Worten einhüllen – über Frauen, die von Michelangelo reden, über gelben Nebel, aber vor allem von dem Refrain, in dem es darum geht, dass dir und mir Zeit bestimmt ist. Das waren die Worte, die in meinem Kopf nachklangen, als mir die Augenlider schwer wurden. Sie waren das Letzte, woran ich dachte, bevor ich einschlief, mein Vater eine Decke über mich breitete und das Licht ausschaltete.
»Keine Ahnung, was er diesmal wieder bestellt hat«, sagte Warren mit Blick auf unsere Einfahrt und den UPS-Kurier. »Ich persönlich hätte ja gegen eine weitere Ladung Steaks nichts einzuwenden.«
»Hoffentlich ist es wieder so lecker wie die Schokolade neulich«, sagte ich und merkte, wie sich meine Stimme vor bemühter Heiterkeit leicht überschlug. »Die war unglaublich.«
»Ja, echt wahr.« Auch Warren hatte diesen hohen, etwas zu munteren Ton drauf, wie mir auffiel. Er warf mir einen kurzen Blick zu und sah schnell wieder auf den See hinaus. Den Grund, weshalb mein Vater plötzlich so über die Stränge schlug, erwähnten wir beide nicht. Wir sprachen auch nicht darüber, dass er viele der Edelprodukte, die er aus aller Welt in die Poconos einfliegen ließ, gar nicht aß und immer dünner wurde.
Ich blätterte in meiner Zeitschrift ein paar Seiten weiter, aber eigentlich interessierte sie mich nicht mehr und nach ein paar Minuten legte ich sie beiseite – vorsichtig allerdings, denn ich hatte sie von Lucy ausgeliehen. Seit ihrer Spontanübernachtung bei mir hatte sich unser Verhältnis deutlich verbessert. Wir waren zwar nicht gerade beste Freundinnen, aber die Atmosphäre im Strandimbiss war um einiges herzlicher geworden. Elliot, der von Lucys Trennungsdrama gehört hatte, fielen plötzlich ständig Dinge aus der Hand, wenn wir alle zusammen Dienst hatten, was mich in meiner anfänglichen Vermutung bestätigte, dass er in sie verknallt war. Aber soweit ich das einschätzen konnte, hatte er in dieser Hinsicht noch keinerlei Initiative ergriffen, außer dass er sich immer krasser parfümierte und ich deswegen schon mit Kundenbeschwerden rechnete.
»Was geht denn da eigentlich bei den Crosbys ab?«, fragte Warren so unvermittelt, dass ich zusammenzuckte.
»Was meinst du denn?«, fragte ich zurück und war verblüfft, dass diese einfache Frage mich derart aus der Fassung brachte. Ich hatte Henry nicht mehr gesehen, seit ich mich beim Kino unterm Sternenzelt so gründlich blamiert hatte. Aber ich hatte oftan ihn
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