Vergiss die Toten nicht
Album, die ich bei meinen Partys von den Mitgliedern unserer Hellsehergruppe gemacht habe. Kennst du Raoul Cumberland, der inzwischen so oft im Fernsehen ist? Vor vielen Jahren war er bei mir zu Besuch. Das hatte ich ganz vergessen. Und…«
»Tante Gerti, ich unterbreche dich ja nur ungern, aber ich habe einen verrückten Tag hinter mir«, sagte Nell. »Ich muss dich etwas fragen. Morgen bringe ich fünf Kartons mit Kleidern vorbei. Das sind viel zu viele, als dass du sie allein heben, sortieren und aufhängen könntest. Also werde ich den Fahrer wegschicken und dir bei der Arbeit helfen.«
»Das ist aber lieb von dir.« Tante Gerti lachte nervös auf.
»Doch das ist gar nicht nötig, mein Schatz.« Wieder lachte sie.
»Ich habe bereits eine Hilfe. Allerdings habe ich ihr versprochen, es niemandem zu verraten. Sie will sich nicht in das Privatleben ihrer Klienten einmischen, obwohl…«
»Tante Gerti, Bonnie Wilson hat mir mehr oder weniger offen gesagt,
dass
sie
sich
als
freiwillige
Helferin
im
Secondhand-Laden zur Verfügung stellen will.«
»Hat sie das?«, fragte Gerti gleichzeitig erleichtert und überrascht. »Das ist wirklich reizend von ihr.«
»Verrate Bonnie bitte nicht, dass ich auch da sein werde«, bat Nel sie. »Bis morgen.«
»Ich bringe mein Album mit«, versprach Gerti.
80
K
aren Renfrew saß gerne im Central Park auf einer Bank, unweit des Restaurants Tavern on the Green. Umgeben von ihren Plastiktüten, genoss sie den Sonnenschein, beobachtete die Rollschuhfahrer und Jogger, die Kindermädchen mit ihren Kinderwagen und die Touristen. Besonders gut gefiel es ihr, wenn die Touristen angesichts der Sehenswürdigkeiten vor Staunen die Augen aufrissen.
Ihre Sehenswürdigkeiten. Ihr New York. Die beste Stadt auf der ganzen Welt.
Nach dem Tod ihrer Mutter war Karen eine Weile in einem Krankenhaus gewesen. »Zur Untersuchung«, hatte es geheißen.
Dann hatte man sie entlassen. Ihre Vermieterin wollte sie nicht mehr aufnehmen. »Sie machen nichts als Ärger. Sie und der ganze Müll, den sie sammeln.«
Doch das war kein Müll, sondern ihre Sachen. Sie freute sich, diese Dinge zu besitzen. Ihre Sachen waren ihre Freunde. Jede einzelne Tüte in ihren beiden Einkaufswagen – von denen sie einen schob und den anderen hinter sich herzog – war wichtig für sie. Und jeder einzelne Gegenstand hatte eine Bedeutung.
Karen liebte ihre Sachen, ihren Park, ihre Stadt. Heute jedoch war kein besonders schöner Tag. Es waren kaum Leute im Park, und es regnete zu stark. Karen holte ihre Plastikplane heraus und breitete sie über sich selbst und über die Einkaufswagen. Wenn die Polizei vorbeikam, würde sie sie vermutlich vertreiben. Doch bis dahin wollte sie es sich hier gemütlich machen.
Sie mochte den Park auch im Regen. Sie hatte den Regen sogar gern, denn er war sauber und freundlich. Selbst wenn er so heftig war wie heute.
»Karen, wir müssen mit dir reden.«
Als sie die barsche Männerstimme hörte, spähte sie unter ihrer Plastikplane hervor.
Neben ihren Einkaufswagen stand ein Polizist. Wahrscheinlich würde er sie wieder ausschimpfen, weil sie sich weigerte, in einer Obdachlosenunterkunft zu leben. Oder noch schlimmer: Er würde sie zusammen mit lauter schrecklichen Verrückten in irgendein Loch pferchen.
»Was wollen Sie?«, fragte sie deshalb verärgert, doch sie wusste, dass sie ihn würde begleiten müssen.
Dieser Polizist war nicht so unfreundlich wie die anderen. Er half ihr sogar mit ihren Sachen. Auf der Straße angekommen, hob er einen der Einkaufswagen in seinen Kleintransporter.
»Aufhören!«, schrie sie. »Das ist mein Eigentum. Fassen Sie es bloß nicht an!«
»Das weiß ich, Karen. Aber wir müssen dir auf dem Revier ein paar Fragen stellen. Danach fahre ich dich mit all deinen Sachen wieder zurück oder auch woandershin, wie du möchtest.
Ehrenwort. Vertrau mir, Karen.«
»Was bleibt mir anderes übrig?«, höhnte Karen, während sie den Polizisten aufmerksam beobachtete, damit er ja nichts von ihrer kostbaren Habe verlor.
81
N
ell wählte Bonnie Wilsons Nummer. Nach dem vierten Läuten sprang der Anrufbeantworter an.
»Um einen Termin bei der international anerkannten Hellseherin Bonnie Wilson zu vereinbaren, hinterlassen Sie bitte Namen und Telefonnummer«, verkündete eine blecherne Stimme.
»Bonnie, hier spricht Nel MacDermott. Ich störe Sie ja nur ungern«, sagte Nel in entschuldigendem Ton. »Aber es wäre mir sehr wichtig, mich noch einmal mit Ihnen
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