Vergiss die Toten nicht
sich umdrehte, stellte sie fest, dass Detective Brennan mit einem anderen Mann aus der Kirche trat und auf sie zukam.
Warum haben die beiden Polizisten Jimmy Ryans Witwe so aus der Fassung gebracht?, fragte sie sich.
26
A
m Donnerstagnachmittag rief Bonnie Wilson Gerti MacDermott an und erkundigte sich, ob diese mit einem kurzen Besuch einverstanden sei.
»Bonnie, wenn ich ehrlich bin, ist es mir heute gar nicht recht«, erwiderte Gerti. »Am Vormittag hat der Trauergottesdienst für Adam Cauliff stattgefunden, und danach hat mein Bruder ein paar der Gäste zum Mittagessen ins Plaza Athenée eingeladen.
Ich bin eben erst nach Hause gekommen. Es war ein langer Tag.«
»Gerti, ich muss Sie einfach kurz sehen. In zwanzig Minuten bin ich bei Ihnen und verspreche, nicht länger als eine halbe Stunde zu bleiben.«
Gerti seufzte, als es in der Leitung klickte. Sie hatte sich nach diesem aufreibenden Tag darauf gefreut, es sich im Morgenmantel zu Hause gemütlich zu machen und ein Tässchen Tee zu trinken.
Ich wünschte, ich hätte irgendwann im Leben gelernt, meinen Willen besser durchzusetzen, sagte sie sich. Andererseits hat Cornelius so viel Willenskraft mitgekriegt, dass es vermutlich für uns beide reicht.
Es war gut, dass er so freundlich über Adam gesprochen hat, dachte sie. Das hatte sie ihm auch nach der Trauerfeier mitgeteilt.
»Ein Politiker, der sein Geld wert ist, kann über jeden eine hübsche Rede halten, Gerti«, hatte er nur gebrummt. »Das solltest du eigentlich wissen. Schließlich hörst du mir schon seit Jahren beim Heucheln zu.«
Gerti hatte sich über seine Unverblümtheit geärgert und ihn beschworen, das nur nicht Nell zu erzählen. Und man musste ihm zugute halten, dass er sich zusammengenommen hatte, als sie sich bei ihm bedankte.
Ach, die arme Nell, seufzte Gerti. Und sie erinnerte sich an das Verhalten ihrer Nichte beim Gottesdienst. Wenn sie doch bloß Gefühle gezeigt hätte. Aber stattdessen hatte sie nur wie betäubt dagesessen. Es war fast genauso wie bei dem Trauergottesdienst für Richard und Joan vor so vielen Jahren.
Damals hatte Cornelius während der ganzen Messe geweint.
Die zehnjährige Nel hatte ihm die Hand getätschelt, ihn getröstet und wie heute keine Träne vergossen.
Ich wünschte, sie würde mir erlauben, eine Weile bei ihr zu wohnen, dachte Gerti. Sie kann sich mit Adams Tod nicht abfinden und versucht einfach, ihn zu ignorieren. Beim Essen nach dem Gottesdienst hatte sie wieder gesagt, ihr käme alles vor wie ein Traum.
Seufzend ging Gerti ins Schlafzimmer, wo sie einen Schrank öffnete. Lieber Gott, warum muss Bonnie ausgerechnet jetzt herkommen? Aber wenigstens reicht die Zeit noch, dass ich mir vorher etwas Bequemeres anziehe.
Sie schlüpfte in eine Hose, einen Baumwollpullover und ihre gemütlichen Hausschuhe. Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen und das Haar gebürstet hatte, fühlte sie sich ein wenig frischer. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, surrte die Gegensprechanlage, und der Pförtner fragte, ob Gerti eine Ms.
Wilson erwarte.
»Ich weiß, Ihnen wäre lieber gewesen, dass ich meinen Besuch verschiebe«, meinte Bonnie beim Eintreten. »Aber ich hielt es für notwendig.« Sie musterte Gerti mit einem eindringlichen Blick aus grauen Augen. »Keine Sorge«, sagte sie ruhig. »Ich glaube, ich kann Ihrer Nichte helfen. Bestimmt wollten Sie sich gerade ein Tässchen Tee machen. Wir sollten beide einen Schluck trinken.«
Kurz darauf saßen die beiden Frauen einander gegenüber am kleinen Küchentisch.
»Ich erinnere mich noch, wie meine Großmutter die Zukunft aus Teeblättern gelesen hat«, sagte Bonnie. »Ihre Prognosen waren erstaunlich zutreffend. Sicher besaß auch sie angeborene übersinnliche Kräfte, derer sie sich selbst nicht bewusst war.
Nachdem sie einer Cousine eine schwere Krankheit prophezeit hat, die dann auch eintrat, hat mein Großvater sie angefleht, anderen Menschen nicht mehr die Zukunft vorherzusagen. Er hat sie überzeugt, dass die Cousine vor lauter Angst krank geworden wäre.«
Bonnies lange Finger schlangen sich um die Tasse. Ein paar Teeblätter waren durchs Sieb gerutscht, und sie studierte sie nachdenklich. Das schwarze Haar fiel ihr übers Gesicht. Als Gerti die junge Frau betrachtete, wurde ihr mulmig. Sie weiß etwas, dachte sie. Bestimmt hat sie schlechte Nachrichten für mich.
»Gerti, Sie kennen gewiss den Begriff ›indirekte Stimme‹«, ergriff Bonnie unvermittelt das Wort.
»Ja, natürlich. Oder
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