Vergiss die Toten nicht
auch in Australien ein Vorstrafenregister, dachte Jack.
»Bin ich verhaftet?«, fragte Kaplan.
Die beiden Detectives wechselten Blicke. »Nein, sind Sie nicht«, entgegnete George Brennan.
Kaplan schob seinen Stuhl zurück. »Dann kann ich ja gehen.«
George Brennan wartete, bis Kaplan den Raum verlassen hatte. Dann wandte er sich an seinen alten Freund und meinte nachdenklich: »Was hältst du von dem?«
»Von Kaplan? Eine miese Kröte«, erwiderte Jack Sclafani.
»Und ob ich ihm zutraue, eine Jacht in die Luft zu sprengen? Ja, durchaus.« Er hielt inne. »Mich stört nur eines: Wenn er diese Leute wirklich ins Jenseits befördert hat, wäre es doch ausgesprochen dumm von ihm gewesen, sich weiter am Hafen rumzudrücken. Der Typ ist zwar schmierig, aber ein Idiot ist er nicht.«
24
K
urz vor Morgengrauen wurden Ken und Regina Tucker von Angstschreien aus dem Kinderzimmer geweckt. Schon zum zweiten Mal seit der verhängnisvollen Reise nach New York hatte Ben einen furchtbaren Albtraum.
Sie sprangen auf, eilten den Flur entlang, stießen die Kinderzimmertür auf, machten Licht und stürzten hinein. Ken nahm den kleinen Jungen in die Arme und drückte ihn fest an sich.
»Ist schon gut, mein Kleiner, alles in Ordnung«, versuchte er ihn zu beruhigen.
»Mach, dass die Schlange weggeht«, schluchzte Ben. »Mach, dass sie weggeht.«
»Ben, das war nur ein Albtraum«, sagte Regina und strich ihm über die Stirn. »Wir sind ja bei dir. Dir kann nichts passieren.«
»Erzähl uns von deinem Traum«, forderte Ken ihn auf.
»Wir sind in einem Schiff auf dem Fluss gefahren, und ich habe über die Reling geschaut. Und dann ist das andere Schiff…«
Bens Augen waren geschlossen. Seine Stimme begann zu zittern und verstummte schließlich.
Seine Eltern wechselten Blicke. »Er bebt am ganzen Leibe«, flüsterte Regina.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Ben eingeschlafen war.
Als die Eltern wieder in ihrem Zimmer waren, sagte Ken leise:
»Ich glaube, wir sollten Ben zu einem Therapeuten schicken. Ich bin zwar kein Experte auf diesem Gebiet, doch nach dem, was ich gelesen und im Fernsehen gesehen habe, leidet er eindeutig an einem posttraumatischen Stresssyndrom.«
Er setzte sich auf die Bettkante. »Was für ein Pech. Man unternimmt mit seinem Sohn einen Ausflug nach New York, um ihm eine Freude zu machen. Und er wird ausgerechnet Zeuge, wie eine Jacht mit vier Menschen darauf in die Luft fliegt.
Warum sind wir nur nicht hier in Wilmington geblieben?«
»Denkst du, er hat wirklich gesehen, wie die Leute zerrissen wurden?«
»Wegen seiner Weitsichtigkeit vermutlich schon. Der arme Kleine. Aber er ist noch jung und wird darüber hinwegkommen.
Mit ein wenig Hilfe hat er es sicher in kurzer Zeit überwunden.
Ich weiß, dass wir bald aufstehen müssen, aber lass uns noch ein paar Minuten schlafen. Ich habe einen langen Tag vor mir, und ich möchte nicht, dass mir bei der Arbeit die Augen zufallen.«
Regina Tucker knipste das Licht aus und kuschelte sich Trost suchend an ihren Mann. Warum träumt Ben nur von Schlangen?, fragte sie sich. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich selbst entsetzlich vor ihnen fürchte, sagte sie sich dann. Bestimmt habe ich in seiner Gegenwart zu oft davon gesprochen. Doch das erklärt immer noch nicht, warum er meine Angst vor Schlangen in seine Albträume von der Jacht einbaut.
Sie fühlte sich elend und hatte ein schlechtes Gewissen, als sie die Augen schloss und einzuschlafen versuchte. Ständig spitzte sie die Ohren, für den Fall, dass Ben wieder zu schreien anfing.
25
D
er Trauergottesdienst für Adam Cauliff fand am späten Donnerstagvormittag statt. Nell saß zwischen ihrem Großvater und ihrer Großtante in der ersten Bankreihe der Kirche. Sie fühlte sich wie in einem Film, fast so, als beobachtete sie die Zeremonie unbeteiligt von außen. Während die Messe ihren Lauf nahm, schossen ihr immer wieder Erinnerungen und unzusammenhängende Gedanken durch den Kopf.
Vor genau zweiundzwanzig Jahren hatte sie in eben dieser Bank gesessen – während des Trauergottesdienstes für ihre Eltern. Und wie bei Adam waren auch ihre Leichen in tausend Stücke zerrissen worden, als ihr Flugzeug explodierte und ausbrannte.
Adam war Einzelkind gewesen, und auch seine Eltern hatten keine Geschwister.
Ich bin ebenfalls Einzelkind, dasselbe galt auch für meine Eltern.
Adam hatte seinen Vater schon während seiner Highschoolzeit verloren, seine Mutter kurz nach dem
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