Vergiss die Toten nicht
benutzte.
»Die Angehörigen wurden gerade erst verständigt, die Leichen wurden noch nicht gefunden, und ein Trottel mit einem Mikro in der Hand labert schon davon, dass sie es verarbeiten müssen«, schimpfte er und schüttelte ärgerlich den Kopf.
Man hatte ihr geraten, sich von ihrem Kummer durch Beschäftigung abzulenken. Und zu den vorgeschlagenen Tätigkeiten gehörte, Jimmys Schrank und seine Schublade auszuräumen. Nun sortierte sie Jimmys Kleider und packte sie in Kartons, um sie für wohltätige Zwecke zu spenden. Besser, ich helfe damit einem armen Menschen, als dass die Sachen wie die meines Großvaters im Schrank verrotten.
Ihre Großmutter hatte alles behalten, was ihr Großvater je besessen hatte. Lisa war der Schrank damals fast wie ein Andenkenschrein erschienen. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind die Jacken und Mäntel ordentlich neben den Kleidern ihrer Großmutter hatte hängen sehen.
Ich brauche Jimmys Sachen nicht, um mich an ihn zu erinnern, sagte sie sich, als sie die Polohemden faltete, die die Kinder ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatten. Schließlich denke ich die ganze Zeit an nichts anderes als an ihn.
»Ändern Sie Ihren Tagesablauf«, hatte der Mann vom Beerdigungsinstitut ihr empfohlen. »Sitzen Sie bei Tisch nicht am selben Platz. Stellen Sie die Möbel im Schlafzimmer um. Sie werden überrascht sein, wie solche Kleinigkeiten Ihnen helfen, das erste Jahr zu überstehen.«
Wenn Jimmys Kommode leer war, wollte sie sie ins Zimmer der Jungen räumen. Das Modell ihres Traumhauses hatte sie bereits ins Wohnzimmer geschafft, denn sie konnte es nicht ertragen, es ständig anzusehen, wenn sie in dem Bett lag, das sie mit Jimmy geteilt hatte.
Morgen kommt das Bett an einen anderen Platz, und zwar zwischen die Fenster, beschloss sie, obwohl sie bezweifelte, dass das wirklich etwas nützen würde. Für sie war es unvorstellbar, dass sie eines Tages nicht mehr ständig an Jimmy denken würde.
Als sie auf die Uhr blickte, bemerkte sie erschrocken, dass es bereits Viertel vor drei war. Die Kinder würden in zwanzig Minuten zurückkehren, und sie wollte nicht, dass sie miterlebten, wie sie die Sachen ihres Vaters aussortierte.
Das Geld, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf.
Den ganzen Tag lang hatte sie versucht, es zu vergessen. Als die beiden Polizisten gestern nach Adam Cauliffs Beerdigung aus der Kirche gekommen waren, hatte sie angenommen, dass sie mit ihr sprechen wollten. Was ist, wenn die Polizei von dem Geld erfährt?, fragte sie sich. Oder wenn sie einen Verdacht hat, sich einen Durchsuchungsbefehl besorgt und die Kartons findet? Und wenn sie dann glaubt, ich wüsste, woher Jimmy eine solche Summe hatte, und mich festnimmt? Was soll ich dann tun?
Sie konnte diese Angst nicht länger verdrängen. Ich bin völlig ratlos, sagte sie sich. Oh, mein Gott, wie soll ich dieses Problem nur lösen?
Das Läuten der Türglocke hallte plötzlich durch das stille Haus. Lisa schnappte erschrocken nach Luft, ließ das Hemd fallen, das sie gerade in der Hand hielt, und eilte nach unten.
Bestimmt ist es nur Brenda, beruhigte sie sich. Sie hat ja gesagt, sie wolle mich später noch besuchen.
Doch noch ehe sie die Tür öffnete, ahnte sie schicksalsergeben, dass sie gleich einem Polizisten gegenüberstehen würde.
Beim Anblick der verschwollenen Augen und des fleckigen Gesichts von Jimmy Ryans Witwe wurde Jack Sclafani von aufrichtigem Mitgefühl ergriffen. Sie sieht aus, als hätte sie den ganzen Tag geweint, dachte er. Es muss ein schrecklicher Schock für sie gewesen sein. Und mit dreiunddreißig Jahren ist sie noch viel zu jung, um mit drei Kindern allein zu sein.
Er war ihr bereits begegnet, und zwar, als er und Brennan ihr mitgeteilt hatten, die Leiche ihres Mannes sei identifiziert worden. Oder vielmehr deren Teile, verbesserte er sich. Gewiss hatte sie ihn nach dem Trauergottesdienst für Adam Cauliff vor der Kirche erkannt.
»Ich bin es wieder, Detective Jack Sclafani. Erinnern Sie sich noch an mich, Mrs. Ryan? Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne kurz mit Ihnen sprechen.«
Er sah, wie die Trauer in ihren Augen von nackter Angst abgelöst wurde. Das wird ein Kinderspiel, überlegte er. Sie wird die Karten sicher bald auf den Tisch legen.
»Darf ich reinkommen?«, fragte er höflich.
Sie schien wie erstarrt, rührte sich nicht und schwieg. »Ja, natürlich. Bitte sehr«, flüsterte sie schließlich.
Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt, dachte
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