Vergiss die Toten nicht
die Sirenen von Polizeiautos und Krankenwagen und leise Musik aus der Wohnung unter ihr, deren Besitzer Tag und Nacht die Stereoanlage dudeln ließ.
Doch in ihrem Zimmer fühlte Nel sich sicher und geborgen.
Ohne Adams hohe Kommode sah der Raum viel größer aus. Ihre eigene Kommode stand nun wieder an ihrem angestammten Platz, und im Schein des kleinen Nachtlichts konnte sie jedes Mal beim Aufwachen die Fotos ihrer Eltern sehen.
Dieser Anblick löste in ihr glückliche Erinnerungen aus. Vor ihrer Einschulung hatten ihre Eltern sie manchmal auf ihre Forschungsreisen nach Südamerika mitgenommen. Dunkel hatte sie noch im Gedächtnis, wie sie mit den Bewohnern abgelegener Dörfer gesprochen und mit anderen Kindern gespielt hatte. Sie hatten einander die Namen der verschiedenen Körperteile wie Nase, Ohren, Augen und Zähne beigebracht.
Nel wurde klar, dass sie an jene Zeit dachte, weil sie sich ganz ähnlich fühlte wie damals. Ihr war, als befände sie sich in einem unbekannten Land und versuchte eine fremde Sprache zu lernen.
Nur mit dem Unterschied, dass ich nun keine Eltern mehr habe, die auf mich aufpassen und auf mein Wohlergehen achten, sagte sie sich.
Beim Aufwachen hatte Nell auch einige Male Dan Minors Gesicht vor Augen gestanden, ein Bild, das sie als sehr beruhigend empfand. Er war ihr Leidensgenosse, denn auch seine Kindheit war von tragischen Ereignissen erschüttert worden –
und er suchte ebenfalls nach Antworten.
Nach dem Aufstehen beschloss Nel bei einer Tasse Kaffee, die Päckchen zu öffnen und das Geld zu zählen, das Lisa Ryan ihr am Vorabend anvertraut hatte. Angeblich waren es fünfzigtausend Dollar, und Nell hielt es für ratsam, sich zu vergewissern.
Sie trug die Päckchen zum Esstisch, löste sorgfältig die Knoten der Paketschnur und stellte dabei fest, dass darin ein grüner Faden eingewebt war. Auch das braune Einwickelpapier erinnerte sie an ihre Kindheit, denn so verpackt hatten ihre Eltern ihren Freunden auf der ganzen Welt Geschenke geschickt.
Paketschnur und Einwickelpapier.
Ohne auf das merkwürdige Gefühl zu achten, das sie plötzlich ergriff, öffnete Nell den ersten Karton und betrachtete die ordentlich gestapelten, von Gummibändern zusammengehaltenen Banknotenbündel.
Vor dem Zählen untersuchte sie eingehend den Karton. Er war etwa zwei Drittel so groß wie die Schachteln, die in Kaufhäusern normalerweise zum Verpacken von Damenkostümen verwendet wurden. Und er trug keinen Firmen- oder Produktnamen. Ganz sicher steckte Absicht dahinter: Man wollte verhindern, dass sich seine Herkunft nachvollziehen ließ.
Nel schenkte sich noch einen Kaffee ein und holte den Taschenrechner hervor. Dann zählte sie jeden Stapel zweimal und tippte das Ergebnis ein. Der erste Karton enthielt achtundzwanzigtausend Dollar, zum Großteil in Fünfzigern.
Sie öffnete den zweiten und begann wieder zu zählen. Ihr fiel auf, dass der Inhalt aus abgenutzten, kleineren Scheinen, Fünfern, Zehnern und Zwanzigern und nur wenigen Fünfzigern, bestand.
Keine Hunderter, dachte sie. Der anonyme Spender war schlau genug, um zu wissen, dass es Aufmerksamkeit erregen würde, wenn Jimmy Ryan mit Hundert-Dollar-Scheinen um sich warf.
In
dem
zweiten
Karton
befanden
sich
genau
zweiundzwanzigtausend Dollar. Also betrug die Gesamtsumme exakt fünfzigtausend, die Jimmy vermutlich für irgendeinen Dienst versprochen worden waren. Aber warum hatte er nichts davon ausgegeben?, fragte sie sich. Hatte er so ein schlechtes Gewissen, dass er es nicht wagte, das Geld anzurühren?
Als Nell über Jimmy Ryans Motive nachgrübelte, fiel ihr die Bibelstelle ein, in der Judas voller Schuld versucht, die dreißig Silberlinge zurückzugeben, die er für den Verrat an Jesus bekommen hat.
Und dann bat er sich erhängt, dachte sie, während sie das Geld in den zweiten Karton zurücklegte. War Jimmy Ryan vielleicht lebensmüde gewesen?
Sie wickelte das braune Papier um das erste Päckchen, und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das also war es, was ihr den ganzen Morgen an diesen Kartons so seltsam erschienen war! Sie hatte dieses dicke Packpapier schon einmal gesehen und auch die Paketschnur mit dem eingewebten grünen Faden.
In Winifreds Aktenschrank.
66
D
ie ganze Nacht hatte Lisa Ryan sich herumgewälzt und den vertrauten nächtlichen Geräuschen gelauscht, die von draußen hereindrangen. Einige davon waren beruhigend, ja, fast tröstend, zum Beispiel das Rascheln des Windes im Ahornbaum,
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