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Vergiss mein nicht

Vergiss mein nicht

Titel: Vergiss mein nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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gefasst und ins Gefängnis gesteckt zu werden, wo seine missgelaunte Frau nicht jeden Tag an ihm herumnörgeln und ihm sagen konnte, was für eine Enttäuschung er doch sei. Wie Jimmy wurde auch May bösartig, wenn sie trank, und obwohl sie nie die Hand gegen Jeffrey erhoben hatte, konnte sie ihn mit Worten verletzen wie sonst niemand auf der Welt. Erfreulicherweise schien sie noch lebenstüchtig zu sein, obwohl sie so abgefüllt war, dass es für einen Tankwagen gereicht hätte. Wenn man May glauben wollte, hatte sie ein streunender Kater, der unter dem Nachbarhaus hervorkam, so erschreckt, dass sie die Treppen hinuntergestürzt war. Da Jeffrey an diesem Morgen drüben tatsächlich ein paar Katzen gehört hatte, musste er diese Möglichkeit wenigstens in Betracht ziehen. Er wollte zudem niemandem, am allerwenigsten sich selbst, eingestehen, wie extrem dankbar er war, dass er im Moment noch keine größere Verantwortung für seine Mutter übernehmen musste.
    Jeffrey stieg aus dem Wagen und wäre beinahe auf dem Kies ausgerutscht. Im Haus seiner Mutter hatte er sich Jeans und ein Poloshirt angezogen, und er kam sich etwas seltsam vor, mitten in der Woche in Freizeitkleidung herumzulaufen. Er hatte erwogen, seine Straßenschuhe anzuziehen, sich aber dagegen entschieden, nachdem er einen Blick in den Spiegel geworfen hatte. Er setzte seine Sonnenbrille auf und sah sich um, als er zu Madam Bell’s schlenderte.
    Das Haus der Wahrsagerin war nur eine Hütte, und die Fliegentür ächzte, als Jeffrey sie öffnete. Er klopfte an die Eingangstür und betrat dann einen kleinen Vorflur. Hier sah es noch immer so aus wie in seiner Jugend. Spot hatte Jeffrey einmal herausgefordert, hineinzugehen und sich von Madam Bell aus der Hand lesen zu lassen. Ihm hatte nicht gefallen, was sie vorausgesagt hatte, und daher hatte er nie wieder einen Fuß in ihr Etablissement gesetzt.
    Jeffrey schaute in den einzigen anderen Raum der Hütte. Nell saß an einem Tisch, die Tarotkarten vor sich. Der Fernseher war äußerst leise eingestellt, außerdem übertönte die Klimaanlage am Fenster Jeffreys Kommen. Nell strickte und sah sich dabei eine Show an. Als wolle sie sichergehen, kein Wort zu verpassen, hatte sie sich weit nach vorn gebeugt.
    Jeffrey machte: » Buuuh!«
    » O mein Gott«, schreckte sie hoch und ließ ihr Strickzeug fallen. Sie stand vom Tisch auf und schlug die Hände zusammen. » Slick, du hast mich fast zu Tode erschreckt.«
    » Dann erschrick bloß nicht ganz.« Er lachte und zog sie in die Arme. Sie war zierlich, aber wohl gerundet. Er trat zurück, um sie genauer anzuschauen. Seit der Highschool hatte Nell sich nicht sehr verändert. Ihr schwarzes Haar war vielleicht ein wenig grau geworden, aber immer noch glatt und lang bis zur Taille. Wahrscheinlich wegen der Hitze hatte sie es zu einem Pferdeschwanz gebunden.
    » Warst du schon drüben bei Possum’s?«, fragte sie, als sie sich wieder an den Tisch setzte. » Was treibst du denn hier? Ist es wegen deiner Mama?«
    Jeffrey schmunzelte und setzte sich Nell gegenüber. Sie hatte schon immer geredet wie ein Wasserfall. » Ja und nein.«
    » Sie war betrunken«, sagte Nell auf gewohnt direkte Weise. Ihre Direktheit war ein Grund gewesen, warum Jeffrey aufgehört hatte, sich mit ihr zu verabreden. Sie nannte die Dinge beim Namen, und mit achtzehn war Jeffrey das zu anstrengend. » Ihre Schnapsrechnung hat uns letzten Winter über Wasser gehalten.«
    » Ich weiß«, antwortete Jeffrey und verschränkte die Arme. Er beglich seit geraumer Zeit die Strom-, Gas- und Wasserrechnungen seiner Mutter und sorgte damit wohl dafür, dass sie sich ihren Alkoholkonsum leisten konnte. Es war zwecklos, mit der alten Dame darüber zu diskutieren, aber zumindest wusste er, dass sie unter diesen Umständen zu Hause trinken würde, statt unterwegs zu sein, um irgendwie Schnaps zu schnorren.
    Er sagte: » Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Die haben ihr doch tatsächlich in meiner Gegenwart einen Wodka eingeflößt.«
    Nell nahm die Karten in die Hand und mischte sie. » Die alte Schnapsdrossel würde doch sonst glatt ins Delirium fallen.«
    Jeffrey zuckte die Achseln. Die Ärzte im Krankenhaus hatten dasselbe gesagt.
    » Was guckst du so?«, fragte Nell, und Jeffrey schmunzelte, als ihm bewusst wurde, dass er sie angestarrt hatte. Er hatte daran gedacht, wie viel leichter es war, mit Nell über den Alkoholismus seiner Mutter zu sprechen als mit Sara. Er hatte keine Ahnung, warum das so war.

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