Vergiss mein nicht (German Edition)
grundsätzlich überhaupt nichts gegen eine Depression. Im Gegenteil, als seelische Krankheit war sie mir geradezu sympathisch, denn gegenüber einer Demenz hat sie einen unschlagbaren Vorteil: Sie ist heilbar!
»Da kommt ein Mann, der meinen Kopf untersuchen will«, flüsterte Gretel ein paar Wochen nach dem erinnerungsreichen Weihnachtsessen zu mir ins Telefon. »Das finde ich nicht so gut.« Sie beklagte sich auch über Malte: »Ständig organisiert er über meinen Kopf hinweg. Ich weiß von nichts! Wenn ich ihm etwas sage, macht er es mit Sicherheit nicht!«
Bald darauf rief mein Vater mich an und berichtete, dass Gretel ständig weine. Er wisse nicht mehr, was er noch machen sollte, sie komme gar nicht mehr aus ihrem Zimmer heraus, sondern glotze nur stundenlang in ihre Agenda. Ich hörte Gretel im Hintergrund schluchzen und schlug vor, er solle sie ans Telefon holen, damit ich sie aufmuntern konnte.
»Komm ans Telefon Gretel, dein Sohn David ist dran.«
»Nee, das will ich nicht«, hörte man sie leise.
»Komm doch, er freut sich.«
»Nein, ich kann nicht.«
»Gretel ist nicht kooperativ«, erklärte mein Vater trocken, während das Wimmern meiner Mutter im Hintergrund wieder lauter wurde.
War das die Depression, auf die ich gehofft hatte?
Kapitel 7
Vergessen zu vergessen
Es begann ganz sachte, Frühling zu werden, und ich hatte schon seit Längerem nichts mehr von zu Hause gehört. Ich hoffte inständig, die depressive Phase wäre endlich vorüber. Doch als eines Tages mein Handy klingelte und die Nummer meiner Eltern zeigte, befürchtete ich das Schlimmste.
»Hallo, David! Was machst du gerade?«, hörte ich dann zu meinem Erstaunen die gut gelaunte Stimme meiner Mutter.
»Ich rede mit meiner Mutter.«
»Dann sag ihr nicht«, flüsterte sie auf einmal konspirativ, »dass sie Gretel heißt.«
Dann polterte und krachte es laut. Offenbar war ihr der Telefonhörer aus der Hand gefallen. Einen Moment lang hörte ich nur undefinierbare Geräusche und das Geschimpfe meiner Mutter, die vergeblich versuchte, den Hörer wieder in die Hand zu bekommen: »Ja wo ist er denn nur, Herrgottsakra! Ja wo hab ich ihn denn, ich Esel!« Schließlich gab sie einen Seufzer von sich, und ich hörte am knarrenden Fußboden, wie sie sich vom Telefon entfernte. »Gretel! Gretel! Ich bin hier!«, rief ich ihr hinterher. Und tatsächlich gelang es mir, ihre Aufmerksamkeit wieder zu wecken. Sie blieb stehen. »Hier bin ich, Gretel! Hier!« Sie kehrte um, folgte der Geräuschquelle und diesmal fand sie den Hörer, der sie beim Namen rief.
»Lebst du noch?«, fragte sie besorgt.
»Ja. Mir geht’s gut.«
»Mach weiter so. Du hast überlebt«, sagte sie erleichtert.»Das Telefon war gefallen, dummerweise hat mir das gefallen.«
Ich hatte Gretel zwar selten so verwirrt erlebt, aber war trotzdem froh, denn sie klang insgesamt gut gestimmt, viel besser als bei unserem letzten Telefonat. Zum Glück hatte sie ihren Humor nicht verloren – selbst wenn ihr mal der Sohn aus der Hand fiel.
Von meinem Vater erfuhr ich, dass Gretel mittlerweile ein Antidementivum bekam, also ein spezielles Alzheimer-Medikament. Das war endlich die Pille, die Gretel sich immer gewünscht hatte – nur dummerweise hatte sie ihren Wunsch mittlerweile vergessen, und mein Vater hatte seine liebe Not, sie zur regelmäßigen Einnahme der Tabletten zu bewegen. Leider bemerkte Malte nach vier Wochen Behandlung mit der Arznei keine Verbesserung ihrer geistigen Fähigkeiten, dafür aber eine deutliche Verschlechterung ihrer Verdauung.
Immerhin nannten die Ärzte jetzt endlich das Kind beim Namen und sprachen von einer Demenz bei Gretel. Eigentlich brauchte es für die spezifischere Diagnose von Alzheimer noch weitere Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, doch Gretel war mittlerweile so durcheinander, dass es unmöglich war, noch brauchbare Aufnahmen von ihrem Kopf zu erstellen. Die seltsame Apparatur eines Computer- oder Kernspintomographen jagte ihr größte Angst ein, und egal wie gut man ihr den Vorgang erklärte und sie beruhigte, sie hatte es sowieso gleich wieder vergessen. Wollte man sie in die Röhre eines Tomographen schieben, geriet sie in Panik, an Stillhalten war nicht zu denken.
Zur Untersuchung Gretels sollte eine Positronen-Emissions-Tomographie (PET) durchgeführt werden. Eine PET eignet sich besonders, die für Alzheimer typischen Eiweißablagerungen im Gehirn darzustellen. Gretel musste dafür einen riesigen Becher mit einer milchigen
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