Vergiss mein nicht (German Edition)
Flüssigkeit zu sich nehmen,die mit radioaktiven Partikeln versetzt war. Aber Gretel erklärte der Radiologin: »Das brauche ich nicht!« Worauf diese brüskiert erwiderte: »Ich bin hier die Ärztin!« Gretel fühlte sich durch die schroffe Reaktion in ihrer Verweigerung nur noch bestärkt und die Untersuchung musste abgebrochen werden. Mein Vater wunderte sich sehr über das unsensible Verhalten der Fachärztin und hätte ihr gerne eine Fortbildung in Sachen Demenz-Patientenbehandlung vermittelt.
»Letztlich ist es ja auch egal, wie man Gretels Demenz nennt«, erklärte er grimmig. »Ob Alzheimer, vaskuläre, frontotemporale, Lewy-Body oder Morbus Pick, die Symptome sind alle ähnlich und die medizinische Behandlung immer gleich sinnlos.«.
Selbst wenn das Antidementivum so wirkte, wie vom Hersteller gewünscht, könnte es den Verlauf der Krankheit lediglich um einige Monate aufschieben. Malte hatte in einem Forschungsmagazin von einem Wissenschaftler gelesen, der die Suche nach einem wirkungsvollen Medikament für Alzheimer mit den Worten kommentierte: ›Wie soll man das Gehirn heilen, wenn man gar nicht versteht, wie es funktioniert?‹
Malte fand nicht, dass sich Gretel seit Einnahme des Medikamentes auch nur vorübergehend stabilisiert hätte; seiner Wahrnehmung nach hatte sich ihr Zustand sogar rapide weiter verschlechtert. Ihre gehobene Stimmung könnte mit dem Neuroleptikum, dem ›Nervendämpfungsmittel‹ zusammenhängen, das Gretel seit einer guten Woche zusätzlich bekam. Der Arzt hatte gesagt, das Mittel werde »ihr Misstrauen und ihren Rückzug aus der Umwelt« vermindern. Aber Malte war auch hier skeptisch. Gretel sei zwar nicht mehr so weinerlich und niedergeschlagen, wirke aber insgesamt noch passiver und schlaffer als vor der Einnahme des Antipsychotikums. Wahrscheinlich hänge ihre Gewichtszunahme auch damit zusammen.
Gretel war mittlerweile in die Pflegestufe eins eingestuft worden und meinem Vater standen monatlich 225 Euro von der Kasse zu, die er für Gretels Betreuung einsetzen konnte. Er hatte mit einer Frau von der Caritas besprochen, eine Hilfe zu organisieren, die ihm ein-, zweimal die Woche die Möglichkeit geben würde, für eine Stunde wegzufahren, um etwas zu besorgen oder Sport zu machen. Mit Pflegestufe zwei könne man natürlich viel mehr machen, sagte er mir, aber es sei schwierig, eine beginnende Demenz so einordnen zu lassen, denn dann müsse man wieder zum Arzt und sich mit einem Gutachter herumschlagen. Meinem Vater wurde sogar ein sogenannter ›Pflegestufenheber‹ empfohlen, der ihm helfen könne, die erwünschte Einstufung zu erreichen. Malte sollte zur Vorbereitung auf den nächsten Antrag ein Pflegeprotokoll führen und schickte mir eine Liste von Gretels Symptomen:
Übelkeit, Müdigkeit, Schwäche, Nase läuft, Angst, Wortfindung gelingt nicht mehr, Merken ist unangenehm, Tun und Machen ist unangenehm, manuelle Fähigkeiten wie z. B. Hosehochziehen nach Klogang verringert; »Kann nichts Hartes mehr beißen«, isst am liebsten Butter pur, Angst vor nass, kalt, heiß, scharf, alles mögliche schmeckt nicht mehr oder ist »scharf«, liegt mit geschlossenen Augen auf dem Rücken im Bett, Vorhänge geschlossen bei Sonne, Spaziergänge länger als eine halbe Stunde schwierig, Tag und Nacht werden nicht mehr richtig wahrgenommen, Tages- und Nachtkleidung wird durcheinandergebracht. Medikation: Arizept 10 mg (Antidementivum), Risperdal 0,5 mg (Neuroleptikum). Bringt jedoch keine Verbesserung. Heute, 14.05.08, musste ich das Frühstücksei füttern.
Vor allem klagte Malte über Gretels »Bockigkeit«, mit der er ständig zu kämpfen habe. Ihr Widerwille sei der letzte Restihres Egos, das um sein Dasein ringe. »Ich kann Gretel auch gut verstehen«, erklärte er mir am Telefon. »Man bevormundet sie ja die ganze Zeit von früh bis spät. Meine Enttäuschung darüber, dass sie nicht so will wie ich, macht es nur noch schlimmer. Sie zieht sich immer weiter in ihr Schneckenhaus zurück. Am liebsten bleibt sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer und steht nur noch zum Essen auf. Ständig fragt sie: ›Wann gibt’s was zu futtern?‹, auch wenn wir gerade erst gegessen haben.«
Malte plagte die Sorge, Gretel werde bald auch noch ihre letzten Interessen aufgeben. Er musste mit ihr um jedes bisschen Aktivität feilschen. Gretel erfand jetzt immer öfter Ausreden, um nicht zu ihrer Chor- oder Quartettprobe zu müssen. Sie behauptete beispielsweise, sie könne die Noten nicht finden
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