Vergiss mein nicht (German Edition)
nicht sicher, ob Gretel mit der britischen Sitcom noch etwas anfangen konnte. Die Serie drehte sich um ein marodes Hotel an der Südküste Englands, das von einem unfähigen Hotelbesitzer geführt wurde. Normalerweiseverlor Gretel beim Fernsehen schon nach ein paar Minuten die Lust am Zuschauen, doch Fawlty Towers sah sie mit größtem Vergnügen. Sie konnte sich zwar nicht entsinnen, die Serie schon einmal gesehen zu haben, aber Erinnerungen weckte sie trotzdem. »In genau so einem Hotel hab ich mal gearbeitet! Das war genau dort! Der Chef war auch genauso und nichts hat da funktioniert.« Sie verfolgte die Episode aufmerksam bis zum Ende und kommentierte: »Ich hab’ damals Englisch studiert und Paul Anka gehört. Morgens bin ich immer unten im Meer schwimmen gegangen.« Dass sie mir für meine Bewerbung an der Filmhochschule vor bald zehn Jahren eine Geschichte über ihre Erlebnisse dort geschrieben hatte, wusste sie nicht mehr, aber die Zeit selbst, die 50 Jahre zurücklag, war ihr lebendig vor Augen. »Ich habe mich in den Bademeister verliebt und Gedichte von T. S. Eliot gelesen.«
Malte hatte Gretel schon lange nicht mehr so angeregt erlebt wie an diesem Abend und auch später, als ich zum Gute-Nacht-Sagen bei ihr am Bett saß, war sie noch in Erinnerungsstimmung: »Ich weiß noch, wie ich Malte sagte: ›Ich will noch ein Kind, drei sind am besten!‹ Aber Malte wollte das gar nicht.« Ich guckte erstaunt und sie schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln: »Willst du denn eigentlich Kinder?«
»Ja klar, im Grunde schon.«
»Denen ginge es bestimmt gut. Aber ich weiß ja, dass man das nicht allein machen kann.«
Das hatte Gretel ganz richtig erkannt! Aber stimmte es, dass mein Vater mich eigentlich gar nicht hatte haben wollen? Wenig später, bei einem Gute-Nacht-Bier in der Küche, sprach ich Malte darauf an. Er zog gedankenvoll die Augenbrauen hoch und grübelte: »Naja, so kann man das eigentlich nicht sagen, dass ich dich nicht wollte. Aber es stimmt, dass Gretelmir hin und wieder einmal vorgeworfen hat, ich hätte mich um dich als Kleinkind nicht richtig gekümmert.«
Ich hatte mich als Kind zwar nie vernachlässigt gefühlt oder eine ›Lücke‹ durch einen ›abwesenden‹ Vater empfunden, aber wahrscheinlich hatte sich meine Mutter immer so intensiv um mich bemüht, dass gar keine solchen Gefühle hatten entstehen können.
Am nächsten Morgen war das Hochgefühl des Abends mit der lustigen Comedy-Serie schon wieder verflogen. Als ich zum Frühstück herunterkam, versuchte Malte gerade, Gretel zum Aufstehen zu bewegen. »Komm, Gretel, es gibt Frühstück. Dein Sohn ist zu Besuch und will jetzt mit uns frühstücken!« Mein Vater hatte Obstsalat vorbereitet, doch das schien meine Mutter nicht zu interessieren. Frustriert kam Malte aus ihrem Zimmer und wir tranken zusammen Kaffee. Die Nacht war ruhig verlaufen, Gretel sei nicht »gewandert«, soweit er das beurteilen könne. Meistens irre sie nachts auf der Suche nach der Toilette umher. Aber das größte Problem sei bei ihr nicht das Herumirren oder Weglaufen, sondern dass sie einfach nicht aus dem Bett komme. »Versuch’ du mal dein Glück bei ihr!«, ermunterte er mich. Ich ging in Gretels Zimmer und fand sie aufrecht in ihrem Bett sitzend. Sie hatte tiefe Sorgenfalten im Gesicht und blätterte in ihrem Terminkalender.
»Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll«, murmelte sie.
»Was sollst du denn schaffen?«
Sie zeigte mir ihre Agenda, in der es vor Notizen und losen Zetteln nur so wimmelte. Teils waren die Notizen mit Büroklammern an die Kalenderseiten geheftet. Es sah äußerst unübersichtlich aus – kein Wunder, dass man da den Überblick verlor. »Ich kann das nicht mehr. Ich kann das nicht«, stöhnte sie kopfschüttelnd. »Es ist furchtbar, ich soll die Kinder abholen, sieh mal!« Sie zeigte mir einen ihrer Merkzettel:
Freitag (16. Nov.) 14.00 abfahren: Vom Kindergarten Mick + Leon abholen: 10 Min. vor 15.00 (oder viertel vor 3) Dann zur Akademie – wenn möglich um 15.15 dort ankommen und Leon abgeben bis 16.30, dann mit Mick spielen, z. B. im Café – Leon um 16.30 abholen und zu uns nach Hause fahren. Um 18.00 kommt Anna mit Zutaten für eine Kartoffel-Gemüse-Suppe. Ich mache Salat.
»Gretel, mach dir keine Sorgen«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Ich glaube, der Zettel ist nicht aktuell. Wir haben doch Oktober und hier oben steht November.«
»Oh je, dann kommt das also alles noch?«
»Naja, ich glaube eher, dass
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