Vergiss mein nicht (German Edition)
der Zettel vom letzten Jahr ist.«
Gretel hatte nichts lieber gehabt, als sich um ihre Enkelkinder zu kümmern. Sie hatte ihnen vorgelesen oder mit ihnen Würfel gespielt. Doch all das überforderte sie mittlerweile. Die beiden Jungs waren auch wilder geworden und machten viel Radau.
»Ja, das ist ein Trauerspiel«, sagte mein Vater, als ich ihm von Gretels Sorgen erzählte. »Sie hat Angst, dass sie das nicht mehr leistet, was die Enkelkinder fordern, möchte es aber eigentlich gerne. Wir hatten doch immer diese Abmachung: Mittwochs holen wir die Kinder von der Schule ab. Und da hatte ich schon den größten Krach mit Gretel, weil sie plötzlich sagte: ›Ich kann nicht mehr, ich kann nicht.‹ Ich habe mir einmal den Zeh gebrochen, als ich vor lauter Wut, nachdem ich sie beredet hatte, gegen die Tür getreten habe, weil die Kinder in der Schule auf uns warteten und ich nicht losfahren konnte, weil sie nicht mitwollte.«
In dem Moment kam Gretel im Nachthemd mit verstrubbelten Haaren in die Küche geschlurft und fragte uns mit großen Augen: »Gibt’s hier vielleicht was zu futtern?«
Zwei Stunden später hatte meine Mutter zwar gefrühstückt, sich aber gleich darauf wieder hingelegt, und gegen Mittag ging das Spiel wieder von vorne los. »Komm Gretel, wir gehen zusammen in den Garten runter«, versuchte mein Vater sie zu motivieren, »und ich zeige dir, welche Blumen noch blühen. Die Dahlien sehen noch ganz prächtig aus!« Keine Reaktion. Er probierte einen anderen Ansatz: »Gretel, du hast doch früher morgens im Garten diese Qi-Gong-Übungen gemacht. Wollen wir das nicht mal wieder probieren? David macht auch mit.« Doch sie biss auch darauf nicht an.
Das Haus, in dem meine Eltern wohnen, hat die Adresse ›Am Mühlberg‹ und liegt über einem relativ steil abfallenden, terrassenartigen Garten, den man sich als kleinen Weinberg vorstellen könnte. Vor vier Jahren hatte die Hausbesitzerin beim Laufen im Wald einen Schlaganfall erlitten und war ins Koma gefallen. Ihre Wohnung im Erdgeschoss des zweistöckigen Hauses stand seitdem leer und der Garten war zum Großteil verwildert. Meine Eltern hatten sich in den 20 Jahren, die sie hier bis zur Pensionierung meines Vaters gewohnt hatten, nie weiter für das Grundstück interessiert. Aber als mein Vater erkannte, dass er nicht so ohne Weiteres ins Ausland gehen konnte, sondern sich um Gretel kümmern musste, begann er, sich botanischen Aufgaben zu widmen. Statt die Gipfel der Anden in Südamerika zu bezwingen, kniete er in einem hessischen Kleingarten, um Unkraut zu rupfen. Er wollte seiner vergesslichen Frau etwas Schönes schaffen, das sie ohne Mühe genießen konnte. Mittlerweile hatte er Blumenbeete angelegt, Kräuter gepflanzt und Wege ausgebessert. Der Garten besaß nun eine romantische Rosenhecke und an der Treppe, die vom Haus in den Garten führte, rankten sich im Frühling hellblaue Königswinden am Geländer empor, die einen zum Rundgang einluden. Jetzt im Herbst hatte einkräftiger Kürbis das Terrassengeländer umschlungen und zeigte stolz seine dicken orangenen Früchte.
Nachdem Malte vergeblich versucht hatte, Gretel zum Mitkommen zu bewegen, ging er mit mir in den Garten hinunter, um mir eine Führung zu geben. Im Spätherbst war es dort natürlich nicht mehr so farbenfroh, das sonst grellbunte Lilienbeet war wie erloschen und auch der Duft von Salbei und Thymian lag nicht mehr in der Luft wie im Sommer. Aber die dicken Dahlien leuchteten tatsächlich unverschämt gelb aus der grau-braunen Umgebung hervor. Auch rosafarbene Chrysanthemen waren noch zu sehen und mein Vater machte mich auf blau-violette Herbstastern aufmerksam, die sich wacker dem bedeckten Himmel entgegenreckten. Malte trug Gartenhandschuhe und hatte ständig hier und da etwas zu tun. »Der Plan war, dass wir hier ein gemeinsames Betätigungsfeld finden«, erzählte er, während er altes Laub vom Weg räumte. »Das war ein Schlag ins Wasser.« Er führte mich weiter, vorbei an einem Beet mit über einem Dutzend riesiger verblühter Sonnenblumen. Einige der Pflanzen waren fast drei Meter hoch und bogen sich unter der Last der mächtigen Köpfe weit nach unten. Mein Vater hielt an und blickte an den ausgebrannten, herabhängenden Blütenköpfen vorbei hoch zum Haus, wo man Gretels Schlafzimmerfenster sah. »Ich habe gedacht, dass Gretel hier irgendwie Anschluss findet, eine Tätigkeit mit den Händen, die sie ausüben kann, auch wenn sie ihr intellektuelles Selbst verliert.«
Weitere Kostenlose Bücher