Vergiss mein nicht (German Edition)
wir machen heute eine Tom-Kha-Gai-Suppe mit Kokosnussmilch.« Wie von einem Zauberwort erweckt, stand Gretel von ihrem Bett auf und ging in die Küche, um sich eine Kochschürze umzubinden. »Gibt’s endlich was zu futtern?«
»Ja, bald, aber wir müssen erst noch etwas einkaufen.«
»Um Gottes Willen!«, sie schaute mich bestürzt an, »Ich hab’ überhaupt kein Geld mehr!«
Als wir schließlich mit Einkaufstasche und Rucksack auf der Straße standen, war ich erleichtert, aber dann wurde mir schlagartig bewusst, dass ich völliges Neuland betrat: Zum ersten Mal nahm nicht meine Mutter mich, sondern ich sie zum Einkaufen mit. Sie hatte keine Ahnung, wo es hingehen sollte. Es war an mir, zu entscheiden, wo es lang ging. Mir kam es vor, als sei ich mein ganzes Leben lang einfach meiner Mutter hinterhergetrottet und plötzlich hätte jemand den Autopiloten ausgestellt und mir das Steuer in die Hand gedrückt. Dummerweise wusste ich nicht so genau, in welche Richtung wir gehen sollten. Ein paar Sachen für die Thai-Suppe – wie Koriander oder Zitronengras – waren gar nicht so einfach zu besorgen. Ich versuchte mich zu erinnern, wohin meine Mutter früher zum Einkaufen gegangen war und peilte als erstes einen türkischen Gemüsehändler an.
»Was suchst du denn?«, fragte mich meine Mutter vor der Gemüse- und Obstauslage auf der Fußgängerzone.
»Koriander.«
»Koriander? Ich dumme Kuh weiß nicht mal mehr wie Koriander überhaupt aussieht.«
»Geht mir ganz ähnlich«, murmelte ich für mich und versuchte, das Gewürz zu finden, von dem ich immerhin wusste, wie es roch und schmeckte. Mir fiel auf, dass sich Gretel ihres Unvermögens zwar bewusst war, trotzdem aber bei guter Laune blieb. Sie beugte sich neugierig über eine Gemüsekiste: »Und so was Grünes, sollen wir das noch mitnehmen?«
»Salat? Das brauchen wir jetzt grad nicht für die Suppe. Aber das Rote da.« Ich zeigte auf Tomaten und sie half mir sogleich, sie in einer Tüte zu verstauen. Sie wusste offenbar nicht, wozu die Sachen gut sein sollten, aber es machte ihr einfach Spaß, etwas mit mir zusammen zu unternehmen. Hatte sie mittlerweile vergessen, was sie früher einmal alles gewusst hatte, und konnte sie deswegen auch nicht mehr traurig über den Verlust ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten sein?
Als wir wieder zu Hause waren, stellten wir uns in die Küche und ich leitete Gretel beim Schneiden der diversen Zutaten an. Zuerst hatte ich Sorge, sie könne sich mit dem scharfen Messer schneiden, aber Gretel ging sehr geschickt damit um und schnitt die Tomaten in extra dünne Scheiben.
»Ich hab’ mal Kartoffeln geschält in ’ner Fabrik«, kommentierte sie lapidar. Tatsächlich hatte sie vor ihrem Studium in Hamburg, während eines ›Werksemesters‹, in der Kantine einer Eisenhütte gearbeitet.
»Und wie war das in der Fabrik?«, fragte ich – ich holte eine der vielen Fragen nach, die ich ihr leider nie zuvor gestellt hatte. Aber das Erinnerungsfensterchen hatte sich schon wieder geschlossen.
»Keine Ahnung«, antwortete sie und schien sich daran kein bisschen zu stören. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Tomaten,die sie mit großem Geschick in immer dünnere Scheiben schnitt, als handelte es sich um Knoblauch oder einen delikaten Käse.
Als ich bald darauf die fertige Suppe fürs Abendessen ins Wohnzimmer brachte, saß Gretel bereits mit meinem Vater am Tisch. Malte studierte den Text eines neapolitanischen Liebesliedes, während Gretel sich intensiv mit ihrem Terminkalender beschäftigte.
»Bist du am 4. November gekommen?«, fragte sie mich aufgrund einer Eintragung.
»Nein, nicht November. Jetzt ist Oktober, Gretel. Zeig’ mal! Der Kalender ist doch von 2007 und wir haben 2008.«
»Ach so!« Sie stand auf, verschwand in ihrem Zimmer und kam mit ihrer Agenda von 2008 zurück. Nach einigem Blättern und Nachforschen fand sie schließlich heraus:
»Du bist also am 21. Oktober gekommen. Ein Dienstag.«
»Genau. Das war gestern.«
Bald nach meinem Besuch ließ mein Vater versuchsweise sämtliche Medikamente für Gretel weg und fand, dass es ihr anschließend deutlich besser ging. Ohne Mittel gegen Demenz, Depression und Herzrhythmusstörung hatte Gretel auffallend weniger Verdauungsschwierigkeiten und wirkte insgesamt munterer und aktiver. Zwar war sie völlig desorientiert und immer verwirrter, aber wenigstens nicht mehr unglücklich. Es schien so, als hätte sie mittlerweile ihr Vergessen vergessen. Von dem Ballast ihrer
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