Vergiss mein nicht (German Edition)
Über Maltes Kopf schwankte eine der müden Sonnenblumen, als suche sie eine Stütze. »Aber sie weigert sich einfach, in den Garten herunterzukommen. Sie hat Angst, hier Schritte zu machen. Ich bin froh, wenn sie überhaupt mal auf den Balkon kommt, um Blumen anzusehen. Dann sagt sie: ›Sehr schön, habe ich auch schon mal gesehen.‹, und geht wieder rein. Und wennes dann doch einmal klappt, wenn sie herunterkommt und etwas schön findet, hat sie es sowieso gleich wieder vergessen. Man fragt sich, was da der Sinn ist.«
Mein Vater führte mich weiter durch den Garten hinab, vorbei an einem verwilderten Distelbeet, unter einem Kirschbaum hindurch, wo wir uns an einem Himbeerstrauch vorbeidrängten. Hier hörte der mit Steinplatten ausgelegte Weg auf und es ging unbefestigt und steil weiter. Malte plante unterhalb des Kirschbaums eine lauschige Terrasse anzulegen. Er hatte schon eine große Menge Steine aufgeschichtet und eine Begrenzung für die rustikale Veranda gebaut, die er nächstes Jahr mit Rhododendren bepflanzen wollte.
»Wenigstens einmal ein Unkräutchen zu rupfen – das bringt sie nicht über sich. Ein einziges Mal hat sie mir geholfen, Steine hier herunterzubringen. Sie hat sich ihre Schürze angezogen und darin Steinchen transportiert. Das hat mich sehr gefreut. Das war’s dann aber leider auch schon.« Malte blickte gedankenverloren in ein Brennnesselfeld, in dem es zwischen den Laubblättern verdächtig raschelte. »Die Igel lieben das hier, aber Gretel? Es wundert mich, dass sie die ganze Gartenarbeit als nicht zu ihrer Person oder ihrer Welt gehörig empfindet. Denn sie hat durchaus von ihrem Architektenvater viel Schönheitssinn und auch gestalterisches Talent geerbt.« Malte kniete nieder, um ein kleines Blümchen zu pflücken. »Sieh mal, wie süß! Ein Windröschen.« Er drehte das Pflänzchen mit einer hellrosa Blüte zwischen den Fingern. »Die findet man nicht so einfach. Ich glaube, dazu sagt man auch Herbst-Anemone.« Für einen Moment versank er in den Anblick. »Was Gretel noch macht und was ich ganz toll finde, ist Minimal-Blumen-Schmuck. Sie nimmt ein einzelnes Blütenblatt oder eine winzig kleine Margerite, legt sie auf einen Teller oder stellt sie in ein Schnapsgläschen – was sie gerade entdeckt. Das finde ich großartig. Das ist irgendwie auch ihreErfindung. Dass das so schön ist, so was Winziges. Und die Leute sehen da auch hin. Es ist ein Aufmerksamkeitsfänger, eben weil es so klein ist.«
Auf dem Rückweg versuchte ich meinen Blick für das Unscheinbare zu schärfen, aber ich sah nur unwegsames Gelände mit spitzen Stolpersteinen und glitschigem Blattwerk.
»Und wie geht’s dir jetzt so mit Gretel?«, fragte ich meinen Vater, während ich ihm half, vor dem Hintereingang des Hauses einen Rhododendron umzutopfen. Über uns streckte ein großer Feigenbaum seine Äste aus, an dem noch vereinzelte Blätter hingen.
»Naja, weißt du«, mein Vater hielt dabei inne, Erde in einen Blumentopf zu schaufeln, »wenn eine Person zerstört wird, ihr das Gehirn gleichsam abgesaugt wird, dann identifiziert man sich auch ein bisschen damit.« Jetzt stand er auf und pflückte ein abgestorbenes Blatt vom Ast des Feigenbaums über ihm. »Gerade wenn man älter wird, bekommt das Erinnern ja einen ganz anderen Stellenwert. In seiner Jugend denkt man ständig an die Zukunft, aber irgendwann kehrt sich die Denkrichtung um, und man schaut zurück. Das muss man ja machen, sonst ist das Leben doch umsonst! Viele Leute finden das Alter ja gerade deswegen schön. Alle Menschen sterben irgendwann, Millionen verschwinden ins Nichts, aber sie können in der Erinnerung fortleben.«
Die Worte meines Vaters blieben mir den Tag über im Kopf und ich dachte an einen Satz von Jean Paul, einem Dichter, den mein Großvater sehr geschätzt hatte:
Die Erinnerung ist das einzige Paradies,
aus dem man nicht vertrieben werden kann.
Ein Blatt Papier mit diesem Zitat hatte meine Großmutter neben einer Büste ihres verstorbenen Mannes auf einer Kommodeliegen, wo sie nach dem Tod ihres Mannes eine kleine Gedenkstätte eingerichtet hatte. Den Satz von Jean Paul fand ich immer einleuchtend und tröstlich, aber seit meine Mutter ihr Gedächtnis verlor, dachte ich, dass wir auch im Paradies der Erinnerung nicht vor Vertreibung sicher sind.
Ich hatte mir vorgenommen, zum Abendessen mit Gretel eine thailändische Suppe zu kochen, die sie mir beigebracht hatte und die ich auf keinen Fall vergessen wollte.
»Gretel,
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