Vergiss mein nicht (German Edition)
Tante sagte anschließend zu ihrem Mann: »Wenn ich einmal in so einer Situation bin, das schreib’ dir hinter die Ohren, will ich keine Behandlung mehr, die mein Leben unnötig verlängert. Dann sorge bitte dafür, dass Schluss ist!« Mein Onkel war sich in dieser Nacht vor Sylvester nicht sicher, ob Gretel das neue Jahr noch erleben würde. Im fortgeschrittenen Demenz-Stadium, in dem sie sich befand, konnte eigentlich jegliche gesundheitliche Komplikation extrem gefährlich werden. Der Dekubitus an Gretels Rücken glich einem Dammbruch. Durch die offene Wunde gelangten ständig Keime in den Körper und die Blutbahn, die nun mit Antibiotikum bekämpft werden mussten. War ihr Fieber bereits das Anzeichen einer beginnenden ›Sepsis‹ – einer Blutvergiftung?
Kurz nach Neujahr machte mein Onkel einen Rundruf bei uns Geschwistern, um uns mitzuteilen, dass Gretel nicht mehr lange zu leben habe. Aus medizinischer Sicht sei ihreine Lebensverlängerung auch nicht mehr unbedingt zu wünschen. Es sei sehr fraglich, ob sie sich in ihrem Zustand von dem schweren Druckgeschwür noch einmal erholen könne. Wir sollten uns in Gretels Sinne überlegen, was wir ihr noch zumuten wollten.
»So ein Dekubitus würde selbst einen starken Baum fällen oder zumindest stark zum Wanken bringen«, erklärte mir mein Onkel und ich fragte ihn, wie es überhaupt dazu kommen konnte. »Durchschnittlich wacht ein Mensch in der Nacht viermal pro Stunde auf und wälzt sich herum. Auch wenn man glaubt, ruhig durchgeschlafen zu haben, hat man sich in Wirklichkeit 20- oder 30-mal gedreht und gewendet. Und das ist auch gut so, denn das sorgt für Durchblutung und beugt einem Durchliegen vor. Wenn man zu lange auf einer Stelle liegt, drückt der Knochen von Innen gegen das Gewebe, bis es irgendwann nicht mehr durchblutet wird und schließlich abstirbt.«
Als ich nach diesem erschütternden Gespräch meinen Vater anrief, wusste auch der keinen Trost: »Die Frage ist: Was passiert, wenn es mit Gretel zu Ende geht? Soll sie dann noch auf die Intensivstation? Welche medizinischen Maßnahmen wollen wir überhaupt noch für sie?«
Dann holte Malte tief Atem und setzte hinzu: »Wir sollten uns auch überlegen, wie wir Gretels Beerdigung organisieren wollen, und uns fragen, wie sie sich das gewünscht hätte.«
Ich konnte es nicht fassen: Meine Mutter zu Hause durchgelegen? Wie konnte so ein riesige Wunde unbemerkt geblieben sein? Ich recherchierte fieberhaft im Internet. Offenbar kann sich so ein Dekubitus unter der Haut unbemerkt vorbereiten und dann innerhalb kürzester Zeit durchbrechen. Es heißt, je nach Gewebetoleranz der Haut reichten manchmal wenige Stunden, um einen Dekubitus entstehen zu lassen. Warenwir völlig bescheuert gewesen, da nicht vorzubeugen? Schon vor über einem Jahr hatte ich ein paar Mal mit meinem Vater über eine Wechseldruckmatratze gesprochen. Absurderweise war es uns dabei weniger um das Durchliegen meiner Mutter als vielmehr um das Durchliegen ihrer Matratze gegangen. Ich hatte mich probehalber auf ihren Stammplatz im Bett gelegt und festgestellt, dass der Schaumstoff ihrer Matratze eine tiefe Kuhle im Beckenbereich hatte. Mein Vater drehte daraufhin kurzerhand die Matratze um und sagte, er werde bei Gelegenheit eine neue kaufen, was er dann auch bald tat. Eigentlich waren wir froh, dass Gretel immer so schön brav liegen blieb und nicht ständig umherwanderte. So lief sie doch weniger Gefahr, zu stürzen. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen war sie nie ausgebüchst, und man konnte sie nicht als ›weglaufgefährdet‹ bezeichnen, wie viele andere Demenzkranke. Im Gegenteil: Gretel lag nachts und große Teile des Tages praktisch bewegungslos auf dem Rücken, dabei hatte sie ihre Hände auf dem Bauch gefaltet. Sie erinnerte mich in dieser Haltung mit geschlossenen Augen an eine Mumie.
Nach dem alarmierenden Rundruf meines Onkels verabredete ich mich mit meinen Schwestern zu einem ›Krisengipfel‹ bei meinen Eltern und wenige Tage später traf ich in Bad Homburg ein. Ich hoffte immer noch. Schließlich hatte es schon öfter geheißen, mit Gretel gehe es zu Ende, und dann hatte sie sich doch wieder aufgerappelt, wie damals nach ihrer Hirnblutung, als die Ärzte sie schon abgeschrieben hatten.
Doch als ich nach meiner Ankunft in Gretels Zimmer trat, zerschlugen sich meine Hoffnungen, denn meine Mutter sah aus wie tot. Sie lag regungslos vor mir da und wirkte wie eine Wachsfigur. Ihre Haut war gelblich und glänzte, den Mund
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