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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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alten Identität befreit, konnte sie einem jetzt ganz erstaunliche Dinge zeigen: »Guck mal, dein Kopf hat keine Nase«, beobachtete sie bei unserem nächsten gemeinsamen Abendessen. »Und jetzt ist sie wieder da.« Ich folgte ihrem Blick zu meinem Schatten an der Wand hinter mir. Tatsächlich erschien dort der Schattenmeines Kopfes entweder mit oder ohne Nase, je nachdem wie ich mich drehte.
    Beim Spaziergang im Park am nächsten Morgen zeigte Gretel mir Vögel, »die Äste festhalten«, und verstand die Frösche, die »korrekt, korrekt« quakten. Das Geschnatter der Enten vom See übersetzte sie mir mit: »Alles in Ordnung«.
    Als ein kleines Blatt über den Weg wehte, hielt Gretel voller Mitgefühl inne: »Oh, das Arme ...« Wir sammelten daraufhin ein paar verlorene Herbstblätter auf, die sich Gretel als Schmuck an ihre Jacke steckte. Zu einem noch relativ grünen Blatt sagte sie schmunzelnd: »Oh, ein ganz junges. Das weiß noch gar nicht, wie es ist, alt zu sein.« Als wir zu einem großen alten Baum mit ungewöhnlich tief hängenden Zweigen kamen, ging Gretel neugierig näher heran. Auf dem Stamm war eine Plakette mit der Aufschrift: Mississippi-Sumpf-Zypresse, Ursprungsland: USA . Gretel erklärte mir beim Weitergehen, dass sie sich das jedes Mal versuche zu merken, es am nächsten Tag aber schon wieder vergessen habe. Ein paar Schritte weiter fragte ich sie: »Und? Wie heisst der Baum?« Sie kam sofort auf ›Mississippi‹ und wusste auch noch, dass der Baum aus den USA stammte. Dann erinnerte sie sich auch an ›Zypresse‹, aber das kleine Wort dazwischen fiel ihr nicht ein. »Nicht Morast, sondern ...?«, half ich ihr auf die Sprünge.
    »Mississippi-Sumpf-Zypresse«, reimte sie es sich zusammen.
    »Richtig!« Gretel versuchte sich dann das Wort beim Weitergehen durch rhythmisches Wiederholen einzuprägen: »Mississippi-Sumpf-Zypresse, Mississippi-Sumpf-Zypresse.«
    Das war doch Gehirnjogging at its best! Während wir beschwingt weitergingen, mischte sich Gretels Sprechgesang mit dem Geschnatter der Enten: »Alles in Ordnung!«

Kapitel 8
    Bitte nicht totmachen!
    Etwa drei Jahre nach Gretels gut gelauntem Gehirnjogging stürzte sie bei einem vorweihnachtlichen Spaziergang mit ihrer Pflegerin. Ihr Röntgenbild zeigte lediglich einen Haar-Riss, also einen leichten Anbruch des Knochens. Man empfahl Schmerzmittel und Krankengymnastik, doch Gretel konnte oder wollte einfach nicht mehr aufstehen.
    Ungefähr Mitte Dezember erzählte mir meine Schwester am Telefon, dass sie wunde Stellen an Gretels Beinen und Fersen entdeckt hatte. »Das kann einem doch nicht entgehen, wenn man sie pflegt?«, sagte sie aufgebracht. Mein Vater und die ungelernte litauische Pflegehilfe waren von den sich überschlagenden Ereignissen überfordert. Es kam einfach zu viel auf einmal. Gretel war plötzlich bettlägerig geworden, nahm viel zu wenig zu sich und entwickelte ein rätselhaftes Fieber mit Schüttelfrost. Die Hausärztin interpretierte ihr Zittern als Zeichen von Schmerzen und verordnete ein Schmerzmittel. Leider warnte sie meinen Vater bei ihrem Hausbesuch nicht vor der Gefahr des Wundliegens. Es schien Gretel dann erst einmal besser zu gehen, und sie blieb über Weihnachten einigermaßen stabil, doch als das Schmerzmittel während der Feiertage ausging und nicht sofort für Nachschub gesorgt werden konnte, ging es ihr abrupt wieder schlechter. Da die Hausärztin im Urlaub war, sprang ein Bereitschaftsarzt ein, der Gretels hohes Fieber und den Schüttelfrost nicht als Folgenvon Schmerzen, sondern als Folgen einer Infektion mit einem Antibiotikum behandelte.
    Mein Vater bat dann seinen Bruder, der Chefarzt einer Klinik ist, um ärztlichen Rat und einen Tag vor Sylvester kam er dann mit seiner Frau zu Besuch. Die beiden waren über den Zustand meiner Mutter sehr erschrocken. Gretel hing am Tropf und lag bewusstlos mit weit geöffnetem Mund da. Sie atmete sehr flach, so wie mein Onkel und meine Tante, eine Pflegedienstleiterin, es von Patienten kannten, mit denen es zu Ende ging. Die beiden halfen meinem Vater an diesem Abend, Gretel zu versorgen. Als sie ihr Hemd wechselten, entdeckten sie, dass nicht nur ihre Fersen wundgelegen waren, sondern auch ihr Rücken. Über ihrem Steißbein hatte sich ein großes Druckgeschwür gebildet, ein sogenannter ›Dekubitus‹. Es roch faulig und sah böse aus. Gretels Zustand war ohnehin schon sehr labil, aber eine derart große Wunde bedeutete eine akut lebensbedrohliche Belastung. Meine

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