Vergiss mein nicht (German Edition)
hatte sie weit aufgesperrt. Sie erinnerte mich an den Anblickmeines Großvater, den ich kurz nach seinem Tod bei ihm zu Hause gesehen hatte. Er hatte ausgesehen wie eine Büste, der Kopf unverhältnismäßig groß, und als ich mich endlich getraut hatte, seine Hand zu berühren, war ich erschrocken, wie kalt sie war. Wie damals tastete ich jetzt mit pochendem Herz nach der Hand meiner Mutter und zum Glück fühlte sie sich schön warm an! Mir fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt bemerkte ich erst, wie sich ihr Brustkorb unter der Decke ganz unscheinbar hob und senkte. Sie schlief tief und fest. Die nächsten Stunden hindurch blieb sie völlig weggetreten, und ich fragte mich, welche Alternative überhaupt noch zur häuslichen Versorgung bestand: Pflegeheim oder Sterbehospiz?
Ein befreundeter Neurologe, den ich um Rat gefragt hatte, als sich Gretels Demenz ankündigte, hatte mir erklärt: »Mit einer diagnostizierten Demenz lebt man durchschnittlich noch sechs, sieben Jahre, aber es kann natürlich auch deutlich länger sein.« Jetzt, im Angesicht von Gretel, rebellierte es in mir und ich dachte: ›Wie ungerecht! Wir hatten nicht mal fünf Jahre!‹
Gretel sollte zwar nicht mehr ins Hospital, aber dafür hatte sich ihr Schlafzimmer in ein Krankenzimmer verwandelt. Der Großteil des Raumes war von einem Pflegebett ausgefüllt, das sich vollautomatisch bewegen ließ und mit einem Haltegriff zum Aufrichten ausgestattet war. Neben ihrem Bett stand ein Rollstuhl. Gretels Schreibtisch war zu einer Ablage für medizinisches Material geworden. Meine Mutter hätte sich bestimmt nicht an der Umfunktionierung ihres Zimmers gestört. Es war nie ein ›heiliger‹ Rückzugsraum für sie gewesen, ihre Tür stand eigentlich immer offen. Gretel liebte es praktisch und sie wollte auf keinen Fall Umstände machen. Ihr Zimmer war ein nützlicher Raum zum Schlafen und lag gegenüber der Küche, ihrem Hauptwirkungsfeld. Einen eigenen Kleiderschrank hatte sie früher gar nicht – ihre Sachenhingen in Maltes Zimmer im Schrank. Eigentlich hätte Gretel sich auch ein Feldbett in der Küche aufstellen können, so wenig Wert schien sie auf ihre Privatsphäre zu legen. Neben dem Schreibtisch und einem Sekretär gab es in ihrem Zimmer noch einen Nähtisch und zwei Bücherregale. Als meine Mutter schon nicht mehr so genau wusste, wie ihr geschah, schafften meine Schwestern einen eigenen Kleiderschrank für sie an, um ihr etwas Gutes zu tun. Ein Bücherschrank wurde dafür abgebaut und die Hälfte ihrer Bibliothek in das obere Stockwerk verlegt. Als ich einmal eine warme Wollweste für sie aus dem neuen Schrank holte, erschrak Gretel und sagte, sie wisse nicht, wessen Sachen das seien. Sie hatte Angst, man könnte denken, sie habe die Kleidung gestohlen. Ich war erstaunt und dachte daran, dass Gretels demenzkranke Mutter immer genau umgekehrt gedacht hatte: Sie hatte nämlich immerzu ihre Kinder und Enkelkinder verdächtigt, sie bestohlen zu haben. Während ihrer Mutter also ständig etwas fehlte, war Gretel eher alles zu viel. Sie hatte jeglichen Besitzanspruch für ihre Sachen schon lange aufgegeben. Vor dem Einschlafen hatte sie mir schon ein paar Mal gesagt, sie habe keine Ahnung, wo sie hier sei, sie habe das Zimmer und die Gegenstände darin noch nie gesehen.
Sie stieß sich also bestimmt nicht daran, dass in ihren Schränken und Schubladen, wo sie früher die Akten der Familie und ihr Unterrichtsmaterial aufbewahrt hatte, jetzt Verbandszeug und Pflaster gelagert wurden. Auf ihrem kleinen Schreibtisch lag vor einem Arsenal von Sprayflaschen, Cremetuben und anderen medizinischen Utensilien, das Pflegeprotokoll. Ich blätterte durch den Aktenordner, in dem der Pflegedienst täglich seine Arbeit dokumentierte. Neben vielen nüchternen Formularen stieß ich auf Fotos, die es in sich hatten. Durch meine Internetrecherche war ich ein wenig vorbereitet und war davon ausgegangen, dass es bei Gretelsicherlich nur um Dekubitus Stufe eins oder zwei gehe. Aber jetzt sah ich, dass es sich um Stufe vier handelte, also die ›Endstufe‹. Die Bilder waren nichts für schwache Nerven. In mir bäumte es sich auf: Das da auf dem Foto konnte nicht meine Mutter sein! Mir wurde übel. Zum Glück sah ich beim Weiterblättern, dass die große Wunde am Rücken zu heilen begann und sich auf dem Weg der Besserung befand. Die Fersen waren auch nicht mehr offen, sondern lediglich gerötet. Doch die Entlastung der Füße, indem man ein Kissen unter ihre Waden legte,
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