Vergiss mein nicht (German Edition)
hatte wiederum zu neuen Druckstellen geführt, die wund zu werden drohten. Ein ganz neues Problem war, dass Gretel ›Wasser in den Beinen‹ hatte, ein Zeichen zu geringer Herzaktivität und mögliche Ursache von Thrombosen. Meine Mutter kam mir vor wie ein altes Schiff in einem schweren Unwetter. Gerade wenn die Mannschaft auf einer Seite das Leck geflickt hat, bricht an anderer Stelle Wasser ein, und die Helfer laufen selber Gefahr, durch ihre Schritte weitere Löcher in das dünne Deck zu treten.
Am Tag unseres ›Krisengipfels‹ trudelten wir Kinder im Laufe des Abends alle ein und saßen schließlich beim Essen zusammen mit meinen Eltern und Gretels Pflegerin Gabija. Meine Mutter hatte ihre Augen geschlossen und zeigte keine Regung, während Gabija damit beschäftigt war, ihren Mund zu öffnen, um ihr Essen zu verabreichen. Manchmal musste sie Gretels Kiefer dafür regelrecht ›aufsperren‹, man spürte, dass sie dazu etwas Kraft benötigte. Doch berührte erst mal etwas Essbares die Zunge meiner Mutter, setzte sich reflexartig ihr Kiefer in Bewegung, sie begann zu kauen und schluckte schließlich auch. Dieser Teil der Nahrungsaufnahme schien noch ganz gut zu funktionieren. Es gab Kräutersalat und Seelachs. Beides nicht ganz einfach zu essen, fand ich, und arbeitete misstrauisch an dem Fisch auf meinem Teller, der feineGräten hatte. Die Stimmung war angespannt, wir hatten alle viel auf dem Herzen, aber wagten nicht unmittelbar darüber zu sprechen. Es war seltsam, so mit Gretel am Tisch zu sitzen und eigentlich über ihr Sterben sprechen zu müssen. Sie war da und irgendwie auch nicht.
Mir kam eine Frau in den Sinn, die ich in einer Gesprächsgruppe für Angehörige von Demenzkranken kennengelernt hatte. Diese ältere Dame hatte ständig von ihrem ›Gespenst‹ gesprochen: »Da hat mein Gespenst sich dann gefreut, als ich wieder zurückkam.« Sie meinte damit ihren Mann, aber wie sie das sagte, klang es irgendwie gar nicht gruselig, sondern hatte etwas Liebevolles und erinnerte mich an das ›kleine Gespenst‹ aus dem Kinderbuch.
Heute Abend im Angesicht meiner Mutter konnte ich die Frau gut verstehen: Gretel war wie zum Geist ihrer selbst geworden. War Geist überhaupt das richtige Wort? Es war ja eher so, als habe der Geist den Körper verlassen und sei dort nur noch ein seltener Gast. Ihr Körper war dabei, ›den Geist aufzugeben‹.
Während Gabija noch damit beschäftigt war, meiner Mutter den Nachtisch zu füttern, versammelten mein Vater und wir Kinder uns in der Küche um die Espressomaschine. »Hat Gretel eigentlich eine Patientenverfügung geschrieben?«, fragten wir meinen Vater.
»Nein. Gretel hat sich da nie direkt geäußert.« Er dachte einen Moment lang nach. »Aber sie hat sich zum Beispiel über Jahre sehr rührend und intensiv um ihre Freundin gekümmert, die vier Jahre lang im Koma lag.« Malte meinte die Hausbesitzerin und Vermieterin meiner Eltern, die im Erdgeschoss gewohnt hatte. »Gretel besuchte sie mehrmals die Woche im Pflegeheim, führte Protokoll, achtete auf jede kleinste Bewegung ihres Zehs oder Fingers. Es gelang ihr auch, sie zu stimulieren, indem sie ihr Musik vorspielte.« Mankonnte Gretels Verhalten gegenüber ihrer Freundin zwar als Indiz nehmen, wie sie sich ihre eigene Behandlung gewünscht hätte, aber die beiden Fälle waren eigentlich nicht vergleichbar. Zum einen war die Freundin bis zu ihrem Schlaganfall geistig klar gewesen und es hatte lange Zeit die Hoffnung bestanden, sie könne sich bis zu einem gewissen Grad wieder erholen. Zum anderen war Gretel damals für ihre Freundin nicht juristisch verantwortlich gewesen.
Bei der Pflege ihrer Mutter hatte sich Gretel mit ihren Schwestern dafür eingesetzt, sie möglichst lange zu Hause zu versorgen. Als es um die gesetzliche Vollmacht und die Frage ging, ob ihre Mutter ins Pflegeheim sollte, hatten die vier Schwestern oft verschiedene Auffassungen und Gretel vermittelte zwischen den Positionen. Die Vollmacht erhielt schließlich die zweitälteste Schwester, die keine eigenen Kinder hatte und ihre Mutter in einem Pflegeheim in ihrer Nähe unterbrachte.
Vor zweieinhalb Jahren hatte Malte sich beim Notar die Generalvollmacht für Gretel ausstellen lassen. Damals war es schon zu spät, mit ihr über eine Patientenverfügung oder eine Betreuungsvollmacht zu reden. Sie begriff nicht mehr, was sie da eigentlich unterschrieb, sondern musste ihrem Mann blind vertrauen.
»Hat Gretel sich denn jemals geäußert, wie
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