Vergiss mein nicht (German Edition)
der Wissenschaft verwurstet werden. Ihr könntet ja zumindest meinen großen Zeh behalten und neben Gretel beerdigen.« Das brachte uns dann wirklich zum Lachen. Die Spannung löste sich, wir redeten unbefangener weiter.
»Mein Bruder und der neue Hausarzt waren sich einig«, berichtete mein Vater, »dass weitere Krankenhausaufenthalte für Gretel möglichst zu vermeiden seien.« Dort gebe es nichts, das man nicht auch zu Hause haben könnte, außer antibiotikaresistenten Keimen. Alle Apparate und die ganze Hightech-Medizin wären ja für Gretel gar nicht mehr sinnvoll, würden aber im Krankenhaus bestimmt zum Einsatz gebracht. Besonders an Feiertagen gebe es im Krankenhaus auch nur mangelhafte Pflege verglichen mit der Fürsorge zu Hause. Wir stimmten ihm zu und fragten uns, ob man Gretel im Zweifel zu Hause wieder an einen Tropf hängen würde oder ob man das auch schon als übertrieben ansah.
»Es ist schwer zu entscheiden, was überhaupt eine lebensverlängernde Maßnahme ist«, grübelte mein Vater. »Tatsache ist doch, dass Gretel ohne dauernde Hilfe schon längst gestorben wäre. Sie hat sich selbst seit längerer Zeit aufgegeben. Oft genug hat sie zu mir gesagt: ›Ich kann nicht mehr‹ oder ›Ich will nicht mehr‹ und sich dann ins Bett gelegt.«
Wir hatten unsere Schritte verlangsamt und hielten unter einem großen Baum, der seine dunklen Äste über uns reckte. Mein Vater schlug nun einen anderen Ton an: »Gretel sagt mir aber auch immer wieder: ›Oh bitte, oh bitte.‹ Damit könnte sie ja meinen: ›Oh bitte, lasst mich weiterleben!‹ Alles, wasnoch mit ihr passiert, kommt doch, weil sich jemand um sie bemüht. So gesehen, ist ihr gesamtes Dasein eine einzige lebensverlängernde Maßnahme geworden.«
Mein Onkel hatte uns auch erklärt, dass man es durchaus zulassen könne, wenn ein Mensch nicht mehr freiwillig Nahrung zu sich nehme. Einen Tod durch Verdursten oder Verhungern müsse man sich nicht als qualvollen Tod vorstellen, sondern eher als sanftes Entschlummern, eine Art Wegdämmern. In der Palliativmedizin spreche man auch von ›liebevollem Unterlassen‹.
»Ich habe ihn auch gefragt«, berichtete ich vom Gespräch mit meinem Onkel, »wenn wir uns entscheiden, ihr nichts mehr zu trinken zu geben, wäre das nicht so, als ob wir den Stecker von einem Beatmungsgerät zögen? Und er sagte daraufhin: ›Der Stecker ist schon lange gezogen – aber nicht von euch.‹«
Nach einem kurzen betretenen Schweigen brach mein Vater die Stille und erzählte, dass er kürzlich seinen Ohren nicht trauen konnte, als er mit einer guten Freundin telefonierte: »Die sagte zu mir, als sie von Gretels kritischer Lage erfuhr: ›Naja, wir haben doch alle so eine Schachtel im Schrank, wenn es drauf ankommt.‹ Sie meinte damit eine tödliche Dosis, um Schluss zu machen.«
Ich fand einen solchen Vorschlag erschütternd unsensibel gegenüber Malte. Schließlich ging es ja nicht um ihn selbst, sondern um seine Frau, die ihm gegenüber nie den Wunsch geäußert hatte, ihr das Leben zu nehmen, wenn es soweit wäre. Gretel war nicht grundsätzlich gegen Selbstmord, aber sie hatte einmal zu mir gesagt, sie finde einen Suizid extrem egoistisch. Der sich selbst Tötende sei ja nach seinem Ableben fein raus, aber seine Angehörigen und Freunde müssten anschließend mit dem Verlust weiterleben. ›Das Gehen schmerztnicht halb so wie das Bleiben‹ , diese Zeile aus einem Gedicht von Mascha Kaléko kam mir in den Sinn.
Meine jüngere Schwester war inzwischen ein paar Schritte vorausgelaufen und am Ufer eines zugefrorenen Weihers stehengeblieben. Hier war die Nacht nicht ganz so finster, aber es wehte ein beißender Wind über das Eis und wir stellten uns in einem kleinen Kreis zusammen. »Ich finde es unheimlich hart, so über Gretel zu reden«, sagte sie leise und begann zu schluchzen. Mein Vater machte einen Schritt auf sie zu, um tröstend seine Hand auf ihre Schulter zu legen: »Ich kann mir gut vorstellen, dass es mit ihr noch einmal bergauf geht und dass sie wieder etwas mobiler wird. Aber ich fürchte, wenn sie noch einmal einen solchen Zusammenbruch hat, wird sie es nicht mehr schaffen.« Ich stand derweil etwas beklemmt daneben, wie in der zweiten Reihe. Ich wollte mich gerne an meiner Familie wärmen, war aber wie festgefroren, unfähig, Gefühle zu zeigen. Mein Vater dagegen taute weiter auf: »Es ist immer wieder erstaunlich, was Gretel noch alles mitbekommt. Neulich habe ich kubanische Cumbia-Musik aufgelegt
Weitere Kostenlose Bücher