Vergiss mein nicht (German Edition)
und sie sagte: ›Schön‹, stand von selbst auf und sagte: ›Ich möchte dich lieben, wenn es so was gibt. Aber meistens gibt es das nicht.‹ Wir haben uns daraufhin in den Armen gelegen und sogar etwas im Tanz gewiegt.«
Vor Kurzem hatte ich ein Interview mit der Ehefrau von Walter Jens gelesen, das mich über die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen nachdenken ließ. Inge Jens kümmerte sich um ihren demenzkranken Mann Walter, den berühmten Literaten und Gelehrten, der sich zeit seines beruflichen Lebens für aktive Sterbehilfe ausgesprochen hatte und seiner Frau den klaren Auftrag gegeben hatte, sein Leben zu beenden, wenn er sich nicht mehr intellektuell austauschenkönnte. Mittlerweile konnte der 86-Jährige nicht mehr lesen und kaum noch reden. »Ich weiß genau, und es steht Wort für Wort in unserer Patientenverfügung formuliert«, sagte die 82-Jährige in dem Interview, »dass mein Mann so, wie er jetzt leben muss, niemals hat leben wollen. Sein Zustand ist schrecklicher als jede Vorstellung, die er sich wahrscheinlich irgendwann einmal ausgemalt hat.« Trotzdem war sie sicher, dass er jetzt an seinem Leben hänge und nicht sterben wolle. »Neulich hat er gesagt: ›Nicht totmachen, bitte nicht totmachen.‹ Ich bin mir nach vielen qualvollen Überlegungen absolut sicher, dass mich mein Mann jetzt nicht um Sterbenshilfe, sondern um Lebenshilfe bittet«, sagte Inge Jens. Es gebe noch Momente in seinem Leben, die ihm große Freude bereiteten. Zum Beispiel esse er mit »allergrößtem Vergnügen«.
Auch Gretel kennt noch kulinarische Genüsse. »Sie kann sich noch riesig über ein Glas Apfelsaft freuen«, schwärmte mein Vater in unserer nächtlichen Runde. »Neulich, als mein Neffe mit seiner neugeborenen Tochter zu Besuch kam, ist Gretel ganz munter geworden und hat zu dem kleinen Mädchen ›Schätzchen‹ gesagt.«
Wir waren alle sehr gerührt und meine Schwester schluchzte: »Wie soll man das denn entscheiden? Das geht doch gar nicht! Das geht doch gar nicht!« Ihr Schluchzen wurde ein lautes Heulen, mit dem sie uns alle ansteckte. Weinend drängten wir uns aneinander und lagen uns in den Armen. Unter den kahlen Baumwipfeln, in denen der klirrend kalte Wind pfiff, hielten wir am gefrorenen Teich der Kälte stand, wie eine kleine Pinguin-Familie in der großen weiten Antarktis.
Kapitel 9
Aspiration
(Aspiration: Erwartung, Hoffnung;
medizinisch: Eindringen von Nahrung
in die Atemwege)
Zehn Tage nach der winterlichen Pinguin-Szene und unserem Beschluss, Gretel kein Krankenhaus mehr zuzumuten, wurde es bei uns zu Hause ernst. Mein Vater stand dem neuen Hausarzt Dr. El-Tarek bei einer häuslichen Wundoperation in Gretels Schlafzimmer zur Seite. Der aus Syrien stammende Arzt hatte meiner Mutter lediglich eine örtliche Betäubung gegeben, denn sie zeigte trotz der großen Wunde keine besondere Schmerzreaktion. Im Gegenteil, sie schien sich durch die geballte Zuwendung während der OP geradezu wohlzufühlen. Mein Vater hielt ihr die Hand und streichelte ihr beruhigend über den Kopf, während der deutlich jüngere, kräftig gebaute Mediziner sich um ihren Rücken kümmerte und nur ab und zu in Gretels Blickfeld auftauchte. Sie lächelte ihm dann freundlich zu und lobte seinen Einsatz:
»Das machen Sie gut!«
»Sie aber auch, Frau Sieveking!« El-Tarek war von Gretels charmanter Freundlichkeit begeistert und hielt immer wieder kurz mit seinem chirurgischen Werkzeug inne, um zurückzulächeln, wofür sich Gretel sogleich revanchierte:
»Sehr schön, weiter so!«
Auch mein Vater war von Dr. El-Tareks Arbeit angetan undfragte: »Wieso machen Sie das eigentlich an einem Samstagabend?«
»Da haben Sie recht, das macht eigentlich keiner«, zwinkerte El-Tarek ihm zu, während er die Wunde von abgestorbenem Gewebe befreite. »Das hier bei Ihnen ist mein spezieller Ehrgeiz. Ich habe früher in der Altenpflege gearbeitet und auch im Krankenhaus in der Chirurgie assistiert.«
Doch obwohl die Operation gut verlaufen war und mein Vater keinen Zweifel hatte, dass es richtig gewesen war, Gretel dafür nicht ins Krankenhaus zu bringen, konnte er in der folgenden Nacht kein Auge zutun. Der grässliche Anblick der Wunde am Rücken seiner Frau ging ihm nicht aus dem Kopf. Der Doktor hatte ihm gesagt, dass so ein Dekubitus wenn überhaupt nur sehr schwer heile und viele Monate brauche. Vor allem plagte meinen Vater sein schlechtes Gewissen.
»Ein Dekubitus ist und bleibt ein Pflegefehler«, sagt er zu mir.
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