Vergiss mein nicht (German Edition)
»Meine Mutter hat mir neulich am Telefon gesagt: ›So etwas darf einfach nicht passieren!‹ Und sie hat ja recht. Ich habe versäumt, für eine kontinuierliche ärztliche Betreuung zu sorgen.«
»Mach dir keine Vorwürfe«, versuche ich ihn aufzumuntern. »So etwas passiert auch in den besten Pflegeheimen, und du hast wirklich getan, was du konntest!«
Ich sitze mit Malte und Gabija in Bad Homburg am Wohnzimmertisch. Wir rekonstruieren die Ereignisse des gestrigen Tages, während Gretel im Hintergrund in ihrem Rollstuhl vorm Fernseher eingenickt ist. In meinem Traum, von dem ich heute Morgen aufgewacht bin, konnte Gretel plötzlich wieder laufen. Auch Malte und Gabija haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Gretel wieder auf die Beine kommt, und vom Physiotherapeuten haben sie gelernt, dass Bewegung die beste Medizin für Gretel sei. Schon allein mal Aufzustehen rege die Durchblutung an und das sei das besteHeilmittel für ihre wundgelegenen Stellen. Und so versuchte Gabija gestern Morgen mit Gretel in die Küche zu wandern. Für die paar Meter vom Schlafzimmer in die Küche brauchten die beiden über eine halbe Stunde. Meine Mutter schien sicher auf ihre Gehhilfe gestützt, und Gabija dachte sich nichts dabei, eine Jacke, die über einem Stuhl hing, eben in die Garderobe zu räumen. Für einen Augenblick ließ sie Gretel dabei unbeobachtet, und genau in diesem Moment verlor sie das Gleichgewicht. Vielleicht war sie schlagartig eingeschlafen. Gabija hörte sie nur noch umfallen und stürzte ihr zu Hilfe. Bei dem Versuch, sie wieder aufzurichten, fuhr ihr ein Hexenschuss in den Rücken. Durch ihre Hilferufe alarmiert, eilte mein Vater herbei und fand Gabija entsetzlich heulend neben seiner Frau auf dem Küchenboden.
Und auch heute Abend kommen Gabija wieder die Tränen: »Es tut mir leid, tut mir leid«, schluchzt sie. Ich schüttele den Kopf und umarme sie: »Das braucht dir nicht leidtun. Wir sind so froh, dass du da bist!« Ohne ihre unermüdliche und liebevolle Fürsorge wäre hier längst alles zusammengebrochen. Sie wischt sich die Tränen aus den Augen und sieht mich entschlossen an. »Gretel kommt wieder gesund. Ich wissen, Gretel kommt wieder gesund!«
Im Hintergrund ist ein beständiger Pfeifton zu hören, über den ich mich wundere: »Was ist das, ein Kochtopf?« Um mir die Geräuschquelle zu zeigen, führt mich mein Vater aber nicht in die Küche, sondern in Gretels Schlafzimmer zur neuen Wechseldruckmatratze. »Wirklich eine tolle Idee«, kommentiert mein Vater zynisch, »eine Schlafunterlage zu konstruieren, die einen derartigen Lärm macht.« Alle paar Minuten werden die verschiedenen Kammern der Matratze wechselweise aufgeblasen und geräuschvoll wieder abgepumpt. »Das ist vielleicht ein Theater mit diesen Sachen! Pflegebett, Wechseldruckmatratze, Rollstuhl, das kostet jaalles Zigtausende von Euros«, lässt Malte seinen Dampf ab. »Dadurch, dass ich Gretel hier zu Hause versorge, erspare ich der Pflegekasse ja eine Riesenstange Geld. Da fragt man sich dann, wieso es so kompliziert sein muss, dass einem die absolut notwendigen Sachen bewilligt werden.« Frustriert berichtet mein Vater über die ständigen Telefonate und den Papierkrieg mit der privaten Kasse: »Als ich denen sagte, ich müsse jetzt sofort das Pflegebett bestellen, erklärten sie mir: ›Ihr Arzt kann verschreiben, was er will, darüber muss erst unser Gutachter entscheiden.‹ Und dann kommt irgendwann ein Gutachter, der offensichtlich von der Materie keine Ahnung hat, nichts fragt und nur mal kurz im Pflegeprotokoll blättert.« Die Miete des Pflegebettes bei einem Sanitätshaus wurde dann bewilligt, und es kam ein Montageteam, das meinem Vater stolz erklärte, es handelte sich hier »um den ›Porsche‹ unter den Pflegebetten«. »Das war kein gutes Omen«, findet mein Vater, der lieber ein ›Opel‹- oder ›VW‹-Pflegebett gehabt hätte, »so ein ›Porsche‹ ist bekanntlich teuer und unpraktisch, besonders beim Ein- und Aussteigen.«
Das Bett hat zwar alle erdenklichen Verstell-Möglichkeiten und lässt sich zur großen Freude der Enkelkinder wie ein Transformer-Roboter in eine Art Sessel verwandeln. Aber leider kann man es nicht tief genug herunterfahren, um Gretel ohne Probleme ins Bett legen zu können. Wenn man sie aus dem Rollstuhl auf ihre Matratze setzen möchte, ist sie so ständig in Gefahr, abzurutschen. Malte hat nun ein hochmodernes, aber in unserem Fall auch höchst unpraktische Pflegebett für 24
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