vergissdeinnicht
sich vorzustellen, dass die Leute, die einem wichtig sind, in eine Art Scheintod fallen, wenn man nicht dabei ist. Dass sie wirklich nur dann lebendig werden, wenn sie bei einem sind, und ohne einen nicht wirklich existieren. Ich meine, man weiß , dass es nicht wahr ist (man ist ja schließlich nicht blöd), aber dieser andere Teil ihres Lebens ist irgendwie nicht wichtig – jedenfalls für einen selbst. Aber als ich Nat beobachtete, ging es mir anders. Er war zu hundert Prozent ein echter Mensch, sogar ohne mich. Und das machte mich glücklich.
Nach ungefähr fünf Minuten legte er auf. Er sah einen Moment auf sein Handy, warf es in die Luft und ließ es wieder in seine Tasche gleiten. Er blieb gegen die Bar gelehnt und starrte in die Luft.
Ich klopfte an das Fenster.
Er erschrak, und ich musste lachen. Wahrscheinlich dachte er, ich wäre irgendein Betrunkener, der bereit war, die Tür einzutreten, um noch ein Pint nach der letzten Runde zu bekommen. Oder vielleicht war er einfach ein Weichei und hatte Angst, in einer dunklen und stürmischen Nacht allein im Pub zu sein. Oder vielleicht träumte er auch nur von mir.
Ich drückte meine Nase gegen das Glas, als er kam, um die Tür aufzuschließen.
»Grace, was machst du denn hier?«
Huh . Nicht gerade Grace-was-für-eine-wundervolle-Überraschung-komm-her-und-lass-mich-noch-in-dieser-Sekunde-über-dich-herfallen.
»Ich wollte dich sehen.« Ich stieß mir den Ellenbogen am Türrahmen, als ich durchging. Autsch.
»Du hättest anrufen können, um mir zu sagen, dass du kommst.« Er küsste mich. Ein flüchtiger, beiläufiger Kuss.
»Was? Kann denn ein Mädchen nicht mehr ihren sehr tapferen und etwas gefährlichen Freund überraschen? Was ist nur los mit dieser Welt?« Ich war noch besoffener, als ich gedacht hatte.
»Du bist total dicht, oder?« Er drehte sich von mir weg und fing an, die Stühle auf die Tische zu stellen.
»Vielleicht ein wiiiiinziges bisschen.« Ich hielt meinen Daumen und Zeigefinger zusammen, um zu zeigen, wie winzig das Bisschen war. »Sal und ich mussten uns durch unsere Kater kämpfen. Wie geht es dir überhaupt nach dem ganzen Drama gestern Abend?« Ich ging zu ihm und legte meine Arme um seine Hüften.
Er hob die Schultern. »Das war doch nichts.«
»Ich würde jemanden umhauen wohl kaum ›nichts‹ nennen … weißt du, ehrlich gesagt ist das sogar sexy.« Ich versuchte, verführerisch auszusehen, aber Nats Gesicht nach zu urteilen, lag ich wohl irgendwie falsch.
»Was willst du eigentlich? Daran ist nichts ›sexy‹. Ich hätte es nicht tun sollen.« Er sah mich nicht an.
»Warum hast du es dann getan? Alles, was der Typ getan hat, war Sal anzumachen … nicht wirklich ein Jahrhundertverbrechen, oder?« Als ich es sagte, wurde mir erst richtig klar, wie seltsam dieses Verhalten für jemanden wie Nat war.
»Sie war aufgebracht.« Seine Stimme war leise und dunkel.
»Sie hat überreagiert. Das denke ich.« Noch etwas wurde mir klar. Irgendetwas stimmte nicht.
»Du weißt ja nicht, was du …« Er unterbrach sich und fing noch mal an. »Schau, Si ist ein Scheißkerl allererster Güte, und ich traue ihm alles zu. Können wir die Sache nicht einfach vergessen? Bitte.«
Er legte seinen Arm um mich, und ich nickte in seine Schulter, aber irgendetwas stimmte absolut nicht. Wir waren zwei Puzzleteile, die nicht zusammenpassten. Er roch nach Arbeit und Schweiß. Wirklich irgendwie sauer.
Ich riss mich von ihm los. »Ich geh besser. Mir ist ein bisschen schlecht.«
»Aber du bist doch gerade erst gekommen …« Er beugte sich runter und knabberte an meinem Hals. Sein Atem war zu heiß.
»Es ist echt spät, und ich muss morgen in die Schule.« Wieder riss ich mich los.
Nat grinste. »Okaaay, wenn du meinst … aber wir haben die Bude ganz für uns alleine …« Er tätschelte die Bar. »Was meinst du? Hast du’s schon mal auf einer Theke gemacht?« Er lachte, und es klang falschfalschfalsch in meinen Ohren.
»Nein.« Und sein Lächeln verschwand. Was stimmt nicht mit mir? Warum will ich es nicht?
»Was ist los mit dir? Deshalb bist du doch gekommen, oder? Ich kenne dich, Grace. Komm schon … das wird lustig.« Er drängte mich an die Bar und küsste mich fest. Ich ließ mich darauf ein, weil ich wusste, dass das die einzige Möglichkeit war, die Stimme zum Schweigen zu bringen, die mir zuflüsterte, dass etwas nicht stimmte. Ich ignorierte sie, so gut es ging: Wie konnte ich ihr vertrauen, wenn ich nicht mal wusste, wem sie
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