Vergissmichnicht
dich zusammenreißt.«
In Stefanies Blick veränderte sich etwas. Ein Flackern – oder war es nur das Licht, das durchs Fenster fiel und sich in ihren Augen widerspiegelte? Doch Andreas kannte seine Frau. Er spürte instinktiv, dass er ihre Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Dass sie, zumindest für einen Moment, aus ihrer inneren Hölle zurückgekehrt war. »Pass auf, mein Schatz«, sagte Andreas. »Du bist deiner Mutter etwas schuldig. Du schuldest ihr die Aufklärung dieses entsetzlichen Verbrechens. Wir müssen herausfinden, wer der Mörder war und warum er es getan hat.«
Sie hörte zu, das spürte er ganz genau. Ihre Augen starrten nach wie vor blicklos zur Wand, aber ihr Atem hatte sich verändert. Er ging schneller und flacher. Und in ihrer Hand, die immer noch in der seinen lag, war mehr Spannung, mehr Leben als wenige Sekunden zuvor.
»Ich glaube, dass wir viel dazu beitragen können, den Mörder zu finden«, fügte Andreas an, unsicher, wie viel er sagen, wie weit er sich nach vorne wagen durfte. Er hatte Angst, dass er sie wieder verlieren könnte, wenn er sie jetzt erschreckte. Aber mindestens genauso groß war die Gefahr, dass sie sich wieder völlig in sich zurückzog und er sie nie mehr erreichte, wenn ihm der Durchbruch jetzt nicht gelang. »Du erinnerst dich doch, dass der Polizist sagte, du seiest nicht die Tochter, sondern die Enkelin«, stieß er hervor.
Stefanie, jetzt hellwach und völlig präsent, wandte den Kopf und sah ihn an. Mit einem Blick, in dem all ihr Kummer, all ihre Verlorenheit stand. Es schnitt ihm ins Herz und er musste sehr mit sich kämpfen, um sie nicht an sich zu ziehen und sie zu trösten. Doch dafür war jetzt keine Zeit. Er musste weitermachen. Weiter und tiefer zu ihr vordringen.
»Das ist Quatsch, die haben sich getäuscht.« Stefanies Worte kamen rasch und heftig. Wütend muteten sie an, aber noch etwas anderes lag in ihnen. Wie ein Tier in Todesangst klingt sie, dachte Andreas.
»Weißt du irgendwas? Bitte, Stefanie, du musst mir das sagen, sonst kann ich dir nicht helfen.«
»Nein«, flüsterte Stefanie. »Nein. Ich weiß nur, dass sie meine Mama ist. Sie war immer für mich da und …« der Rest ihrer Worte ging in einer Flut von Tränen unter. Stefanies Körper wurde gebeutelt, geschüttelt vor Kummer. Andreas zog sie in seine Arme und hielt sie fest. Es dauerte lange. Sie schrie, tobte, trommelte zwischendurch sogar mit den Fäusten gegen seine Brust. Erst Stunden später schlief sie erschöpft in seinen Armen ein.
Andreas blickte auf seine schlafende Frau und kämpfte selbst mit den Tränen. Es war schlimm, es war entsetzlich gewesen. Stefanie hatte regelrecht gerast. Aber zugleich war es erlösend und befreiend. Und es war ihm tausend Mal lieber, wenn sie ihren Schmerz derart herausschrie, als wenn sie in ihrer stillen, einsamen Hölle versank, zu der er keinen Zutritt hatte.
Ihm wurde klar, dass sie entsetzliche Angst hatte, ihre Mutter ein zweites Mal zu verlieren. Indem sich bestätigte, dass Elisabeth Meierle gar nicht ihre Mutter war.
Dass sie wirklich nichts wusste, glaubte er ihr. Ebenso sicher glaubte er aber auch, dass sich die Polizei nicht irrte. Er war gestern, als die Psychologin bei seiner Frau war, auf dem Standesamt gewesen und hatte sich die Geburtsurkunde seiner Frau zeigen lassen. Die Standesbeamtin hatte sich etwas geziert, ihm letztendlich aber Einblick in die Daten gewährt, da sie ihn und Stefanie persönlich kannte. Und da stand klipp und klar eine Christin Meierle als Mutter eingetragen.
Und plötzlich erinnerte er sich daran, dass er sich damals, bei den Hochzeitsvorbereitungen, gewundert hatte, dass seine Frau keine Geburtsurkunde besaß. Sie befand sich noch immer bei den Unterlagen ihrer Mutter. Und nicht nur das: Elisabeth Meierle hatte darauf bestanden, sich um alles zu kümmern, und die Geburtsurkunde direkt ans Amt geschickt. »Steffi soll sich darauf konzentrieren, ihr perfektes Kleid und ihren bevorzugten Blumenschmuck zu finden. Den ganzen organisatorischen Kram überlasst nur mir«, hatte sie damals gesagt. Und sie hatten dankend angenommen, schließlich drohten ihnen die Hochzeitsvorbereitungen über den Kopf zu wachsen, zumal Stefanie im dritten Monat schwanger war und ständig mit Müdigkeit und Übelkeit zu kämpfen hatte.
In der gespenstischen Stille des sommerlichen Spätnachmittags, in seinem Schlafzimmer sitzend mit seiner Frau auf dem Schoß, fragte Andreas sich, ob es ein Fehler gewesen war, nicht auf die
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