Vergissmichnicht
Körper freigab. Sie gab alle ihre Hoffnungen in das Tuch, betete stumm, es möge sich um einen schrecklichen Irrtum handeln und es wäre nicht die geliebte Mutter, die darunter läge. Sekunden später zersprangen die Hoffnungen in tausend Scherben. Es war Elisabeth Meierle, die da lag, und sie sah grauenvoll aus, Stefanie starrte entsetzt auf ihren zerstörten, obduzierten Körper. Konnte ihren fassungslosen Blick nicht von der Stelle an ihrer Kehle wenden, dieser grauenvollen Stelle. Stefanie hatte sich mit einem wilden Schrei auf ihre Mutter geworfen. »Wer hat dir das angetan? Wer hat das nur getan?«, hatte sie immer wieder gerufen und Andreas, der Pathologe und der begleitende Polizist, der große Blonde, der ihnen auch die Todesnachricht überbracht hatte, hatten alle Kraft aufbringen müssen, um sie von ihrer toten, ihrer ermordeten Mutter wegzuziehen. Andreas hatte geweint, als er seine Frau so verzweifelt sah. Und er hatte geweint, als sie sich draußen im Gang von ihm losgerissen und versucht hatte, in die Pathologie zurückzugelangen. »Ich kann sie doch da nicht alleine lassen«, hatte sie geschluchzt und alles versucht, sich aus Andreas’ Umarmung zu befreien. »Sie ist doch so schrecklich einsam.«
»Sie ist jetzt überall bei dir, Liebes«, hatte Andreas sie zu trösten versucht. »Sie ist nur in einen anderen Zusammenhang zu dir getreten. Du kannst sie sonntags nicht mehr besuchen, sie kann nicht mehr mit uns in den Urlaub fahren. Aber stell dir vor, sie wäre die Luft, die dich umgibt und die du atmest. Stell dir vor, sie wäre die Sonne, die tags auf dich herab scheint, und die Sterne, die nachts am Himmel stehen. Sie ist immer bei dir, vielleicht näher noch als bisher. Weil sie nun ganz geschmeidig ist und sich dir anpassen, dich überallhin begleiten kann. Wie eine wärmende, liebende, schützende Hülle.«
Er war sich nicht sicher, ob seine Worte zu ihr durchgedrungen waren. Aber sie war ruhiger geworden und sie hatte sich von ihm nach draußen führen lassen, wo Ole bereits im Polizeiwagen auf sie wartete, um sie nach Hause zu fahren.
Seither aber hatte Stefanie geschwiegen. Sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen. Ihre Kinder waren zutiefst verstört, als die sonst so liebevolle und fröhliche Mutter ihre Umarmungen nicht erwiderte, als sie mit leerem Blick durch sie hindurchsah, wenn sie mit ihr sprachen. Andreas hatte mit dem Kindergarten gesprochen und seine Mutter verständigt. Entsetzt hatte diese die Kinder sofort zu sich genommen. Gottlob wohnte Margarethe Schwarz nicht weit weg. Andreas lebte mit seiner Frau in der Rietstraße nahe der Stadtmauer, seine Mutter bewohnte eine charmante, großzügige Dachgeschosswohnung am Oberen Tor, im Erdgeschoss des Hauses betrieb sie einen Blumenladen. Die Rietstraße war eine der vier Hauptstraßen, die die kreisrunde Innenstadt wie ein Kreuz durchzogen. Zu Fuß brauchte man vielleicht fünf Minuten von der einen Haustüre zur anderen.
Andreas wusste, dass seine Mutter sich gut um ihre Enkel kümmern und alles tun würde, um den Kleinen über die schwere Zeit hinwegzuhelfen. Sie würde sich nicht anmerken lassen, dass ihr selbst bei dieser Nachricht buchstäblich das Blut in den Adern gefroren war und dass zum kalten Entsetzen über die grauenvolle Tat auch der Schmerz über den Verlust Elisabeths kam. Die beiden Damen hatten sich sehr nahegestanden. Waren sie doch beide vor wenigen Jahren Witwe geworden und verstanden die Sorgen und Nöte und auch die Einsamkeit der jeweils anderen. Da waren gemeinsame Weihnachtsfeiern, gemeinsame Kindergeburtstage, ja, sogar gemeinsam verbrachte Urlaube mit Stefanie, Andreas und ihren Kindern, in denen sich die beiden Frauen ein Hotelzimmer teilten. Es war die pure Familienidylle gewesen, die der grausame Mord nun ein für alle Mal zerstört hatte.
Und nun saß Andreas hilflos an Stefanies Bett und versuchte sein Bestes, um sie zumindest zur Nahrungsaufnahme zu bewegen. Er müsse Geduld haben, hatte die Psychologin gesagt. Aber das war schwer, so entsetzlich schwer, und er hatte das Gefühl, dass sich seine Frau immer weiter von ihm entfernte. In eine Welt, zu der nur sie Zugang hatte. Und Andreas fürchtete, dass diese Welt die Hölle war.
Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre, die leblos und schlaff auf dem geblümten Bettbezug lag. »Komm, Liebes«, sagte er. »Du würdest deine Mama sehr, sehr unglücklich machen, wenn sie wüsste, wie sehr du wegen ihr leidest. Sie würde von dir erwarten, dass du
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