Vergissmichnicht
im Leben. Alles, worauf sie sich gestützt hatte, war in Scherben zerbrochen. Sie wusste nicht, wer sie war, woher sie kam und schon gar nicht, wohin sie gehen und was aus ihr werden sollte. Dabei gab es so viele Dinge zu tun. Die Leiche ihrer Mutter war endlich zur Beerdigung freigegeben worden, dann galt es, den Nachlass zu regeln und zu entscheiden, was mit dem Haus ihrer Mutter geschehen sollte, das sie ihr vermacht hatte. Sie wollte es nicht. Und sie wollte auch das Geld nicht. Und vor allem wollte sie diese scheußliche Beerdigung nicht, am liebsten hätte sie sich davor gedrückt. Aber sie wusste, dass das nicht ging.
Wenn dieser Tag doch nur schon vorbei wäre.
Die Aussegnungshalle auf dem Überlinger Friedhof quoll über vor Menschen, die Elisabeth Meierle die letzte Ehre erweisen wollten. Und die sich durch einen Besuch an ihrem Grab ganz still und leise eine Antwort auf die Frage nach dem ›Warum‹ erhofften. Der Mord an der alten Frau hatte die kleine Stadt zutiefst erschüttert. Zumal Elisabeth Meierle ein echtes Überlinger Urgestein gewesen war. Jeder kannte sie, sie hatte zum Stadtbild gehört, man hatte ihr feines Wesen und ihren Sinn für Humor ebenso geschätzt wie die Spenden, die sie mit großer Zuverlässigkeit alljährlich an Weihnachten an die Überlinger Vereine verteilte. Gleichermaßen hatten die Überlinger Stefanie in ihr Herz geschlossen. Sie war immer noch eine von ihnen, auch wenn sie der Liebe wegen vor Jahren nach Villingen-Schwenningen gezogen war. Vielen der anwesenden Trauergäste schnitt der Schmerz, der das Gesicht der jungen Frau beherrschte, tief ins Herz. Sowohl der Südkurier als auch der Pfarrer hatten den Wunsch der Trauernden kundgetan, von Beileidsbezeugungen am Grabe abzusehen, und die Überlinger hielten sich daran. Stefanie war froh darum. Nicht nur wegen ihrer Trauer, sondern auch wegen ihrer Wut, ihrer Enttäuschung, ihrer Fassungslosigkeit. In die entsetzliche, abgrundtiefe Trauer um die Frau, die sie ein Leben lang für ihre Mutter gehalten hatte, mischte sich eben jenes Gefühl der Wut und der Enttäuschung. Sie hatten es gewusst. Zumindest die Älteren von ihnen. Sie mussten gewusst haben, dass Stefanie nicht das Kind, sondern das Enkel kind von Elisabeth Meierle gewesen war. In einer Stadt wie Überlingen konnte keine Frau eine Schwangerschaft vortäuschen, dessen war Stefanie sich sicher. Doch sie hatten geschwiegen, nie ein Wort verraten. All die Jahre über hatten sie ihr ins Gesicht gelogen, wenn sie von Elisabeth als von ›deiner Mama‹ sprachen. Stefanie fand sich in ihrer Welt nicht mehr zurecht. Das Kartenhaus, in dem sich ihr Leben abgespielt hatte, war zusammengebrochen. Sie suchte Schuldige und fand sie in all den Trauernden, die sich am Grab Elisabeth Meierles einfanden und denen sie stumm grollte, die sie innerlich verteufelte. Dass sie geschwiegen hatten, um sie vor dem Schmerz zu schützen, den ein Kind empfindet, wenn es erfährt, dass seine Mutter es verlassen hat, auf die Idee kam sie nicht.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Überlingen
Draußen ging die Welt unter. Alexandra saß in der Redaktion und starrte hinaus. Es war ihr erster Arbeitstag. Nach dem Tod von Elisabeth Meierle war sie zunächst krankgeschrieben gewesen. Der See lag schwarz und düster inmitten einer regennassen Landschaft. Es hagelte, donnerte und blitzte.
Alexandra konnte sich nicht konzentrieren, dabei musste sie sich dringend beeilen; bis Redaktionsschluss blieben ihr noch exakt zwei Stunden. Meinwald wollte einen Text von ihr haben. Über die Mordnacht. Geschrieben aus der Ich-Perspektive. Damit quälte sie sich nun schon den ganzen Tag. Was ungewöhnlich war. Normalerweise brauchte sie für einen Aufmacher, wenn sie nicht mehr recherchieren musste, höchstens eine Stunde. Zum Glück war der Artikel der einzige, den sie für die morgige Ausgabe der Zeitung schreiben musste. Was ebenfalls ungewöhnlich war. Drei Artikel pro Tag waren normal, hinzu kamen noch das Bearbeiten von Pressemitteilungen und zahlreiche Telefonanrufe.
Sie zuckte zusammen, als ihr Handy piepte und den Eingang einer SMS meldete. Bestimmt wieder Ralf, dachte sie genervt. Seit ihr Exfreund seinen Zorn und auch seinen Stolz heruntergeschluckt hatte, bombardierte er sie mit SMS und Anrufen, in denen er ihr seine Liebe schwor und sie bat, zu ihm zurückzukehren. Unzählige Male hatte Alexandra ihm schon erklärt, dass sie keineswegs gedenke, sich wieder auf ihn einzulassen, und nachdem ihr Handy
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