Vergissmichnicht
den ganzen Tag über weder eine SMS noch einen Anruf von Ralf gemeldet hatte, hatte sie eigentlich gehofft, er habe es endlich begriffen. Seufzend nahm sie das weiße iPhone in die Hand, um die Nachricht zu lesen und stellte überrascht fest, dass sie von Ole und nicht von Ralf war. Ole schrieb eher selten SMS. Er hatte ihr gleich nach ihrem ersten Kuss erklärt, dass er »nicht so der SMS-Typ« sei.
Sie klickte auf ›Nachrichten‹ und las Oles Zeilen. ›Muss dich unbedingt sehen‹, schrieb er. Lächelnd tippte Alexandra: ›Ich dich auch – du fehlst mir.‹ Die Antwort kam postwendend: ›Du fehlst mir auch. Und wie! Hab Dir aber auch was Wichtiges zu erzählen. Wann kannst du Schluss machen?‹
Alexandra warf einen Blick auf die Uhr auf ihrem Bildschirm. Schon 17.15 Uhr. Verdammt. Dann hatte sie also tatsächlich eine ganze viertel Stunde damit verbracht, aus dem Fenster zu starren. Sie musste sich beeilen. ›Bin um 19 Uhr hier fertig. Wo sollen wir uns treffen? Bei mir?‹
›Nein, ich hole dich ab, dann wirst du nicht nass‹, schrieb Ole zurück. Alexandra lächelte. Oles Fürsorglichkeit war eines der vielen Dinge, die sie an ihm mochte. Er war durch und durch ein Gentleman und das gefiel ihr. Er half ihr in die Jacke, hielt ihr die Tür auf – oder holte sie ab, wenn sie zu Fuß unterwegs war und es regnete. Alexandra war eine selbstständige Frau und wünschte sich einen Partner, der das akzeptierte. Gleichzeitig wollte sie aber auch einen Mann, der sie umschmeichelte, umgarnte, charmant war und zu dem sie aufschauen konnte. Ole war dieser Mann. Ganz eindeutig. Und er war ungemein verständnisvoll. Als sie ihm gebeichtet hatte, dass sie noch mit Ralf zusammen gewesen war als sie ein Paar wurden, hatte er sie in die Arme gezogen, sie geküsst und gemurmelt: »Hätte ich auch nicht gedacht, dass so eine tolle Frau wie du solo ist.« Sie lächelte in der Erinnerung, tippte ein ›Freu mich, bis später‹ in ihr Handy und stand auch tatsächlich Punkt 19 Uhr fix und fertig am Seitenausgang der Redaktion. Der Haupteingang, durch den man in die Geschäftsstelle und von hier aus durch eine Verbindungstür in die Redaktion gelangte, war bereits geschlossen. Nach Oles SMS hatte sie in die Tasten gehauen und was dabei herausgekommen war, gefiel ihr gut, und auch Meinwald, der den Artikel noch überflogen hatte, hatte ihre Arbeit gelobt. Allerdings wurde durch das Schreiben alles noch einmal aufgewühlt. Sie spürte wieder den zwanghaften Drang, sich die Hände zu waschen, der in den letzten Tagen immerhin etwas abgenommen hatte. Dank Ole und dank der Psychologin, mit der sie jene schrecklichen Stunden aufarbeitete.
Als sie Oles Wagen vorfahren sah, fühlte sie sich gleich besser. Er hielt am Straßenrand, stieg aus und nahm sie in die Arme. »Schön, Dich zu sehen«, murmelte er und gab ihr einen Kuss.
Alexandra spürte, wie ihre Knie weich wurden, doch Ole ließ sie los und hielt ihr die Wagentür auf. »Wie geht es dir?«, fragte er, nachdem sie nebeneinander im Wagen saßen.
»Gemischt«, antwortete sie und starrte in den Regen, der in Sturzbächen über die Scheibe rann und Muster und Linien malte, die der Scheibenwischer kurz darauf erbarmungslos zerstörte. Sie erzählte ihm von dem Artikel, den sie hatte schreiben müssen. Ole nahm ihre Hand und steuerte den Wagen mit der freien Hand durch die Stadt. Die Scheinwerfer spiegelten sich auf der regennassen Fahrbahn, Menschen hasteten über die Straße, auf dem Weg nach Hause, in eine warme, schützende Hülle. »Was musst du mir denn erzählen?«, fragte Alexandra neugierig. »Später«, vertröstete Ole sie. »Wenn wir bei dir sind.«
Zu Hause angekommen, holte Alexandra eine Flasche Rotwein aus der Küche, legte eine CD von Enya in die Stereoanlage, zündete die Kerze auf dem Couchtisch an und schenkte den Wein in die langstieligen Kristallgläser, die sie von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommen hatte. Ole saß auf ihrem großen, weißen Sofa, das über und über mit bunten Kissen geschmückt war, und streckte die Arme nach ihr aus. Seufzend ließ Alexandra sich hineinsinken. Ein Gefühl des Nachhausekommens bemächtigte sich ihrer, ein Gefühl, das sie bisher nicht gekannt hatte. »Jetzt erzähl endlich«, sagte sie, angelte nach den Weingläsern auf dem Couchtisch und reichte Ole eines davon.
»Ich habe mich mit der Frau befasst, die seinerzeit mit Carlo Bader verlobt war.«
»Und?« Alexandra richtete sich gespannt auf.
»Du wirst es nicht
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