Vergissmichnicht
zu nötigen. Außerdem schnarchte er tatsächlich. Aber das hatte sie früher auch nicht gestört. Nicht im Geringsten. Im Gegenteil, sie hatte damals sogar versichert, dass sie sein Schnarchen gemütlich finde. »So kann ich nicht nur fühlen, sondern auch hören, dass du bei mir bist, dass ich nicht allein bin«, hatte sie gesagt und sich vertrauensvoll an ihn geschmiegt.
Wenig später kam Charles am Seeufer an und setzte sich auf eine Bank. Das also war das Wasser, das seine Frau gleichermaßen so liebte und fürchtete. Liebte, weil es den Geschmack der Heimat, des Geborgenseins barg. Weil ihm Kinderlachen, glückliche Tage am Seeufer und der Geschmack nach Himbeereis, wie es nur am Bodensee schmeckte, innewohnten. Und fürchtete, weil es die Farbe des Blutes in sich trug und weil in dem leisen Plätschern, mit dem es gegen das Ufer schlug, das Geräusch des Schreckens lag. Das Wasser des Schreckens. So hatte sie einmal gesagt.
Es war nicht direkt am Bodenseeufer geschehen, so viel wusste er. Der Stadtgarten war der Ort des Verbrechens gewesen. Aber in den Bodensee war sie danach gestiegen, um sich die Schande vom Körper zu waschen. In einer ihrer seltenen offenen Stunden hatte sie ihm erzählt, wie sie die Hände verzweifelt aneinandergerieben und ihren Körper im Bodenseewasser geschrubbt habe in der Hoffnung, sie könne »wieder rein werden«, wie sie gesagt hatte. Und als es ihr nicht gelang, versuchte sie, im Bodenseewasser zu sterben, bis ein morgendlicher Schwimmer sie fand und sie in ein Leben zurückholte, das sie nicht leben wollte.
Charles überlegte, ob er in den Stadtgarten gehen sollte, doch er zögerte, diesen Ort des Schreckens aufzusuchen. Irgendwie, er wusste nicht warum, wollte er das nicht ohne das Einverständnis seiner Frau tun. Stattdessen machte er sich auf die Suche nach dem örtlichen Polizeirevier. Es konnte nicht schaden, wenn er in Erfahrung brächte, um wie viel Uhr Ole Strobehns Dienst begann. Charles Didier lenkte seine Schritte stadteinwärts, über alte Pflastersteine, die tausende Stiefel und Schuhe blank poliert hatten. Er überquerte die Hofstatt und umrundete einmal das Münster. Plötzlich überkam ihn, der sich fast schon Atheist nannte, der übermächtige Drang zu beten. Und so kniete er vor dem verschlossenen Gotteshaus nieder und flehte den Herrgott mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen um Gnade für seine Frau an.
Achtundzwanzigstes Kapitel
Konstanz
»Guten Tag, Frau Lieber, darf ich hereinkommen?«
Beate Grubers Gesichtszüge entgleisten, als Ole sie mit ihrem Mädchennamen ansprach. Die Wangen wurden noch ein wenig fahler, die grellrot geschminkten Lippen öffneten sich zu einem stummen Schrei, die rechte Hand fuhr unversehens an den Mund.
»Sie hießen doch einmal Lieber mit Nachnamen, oder?«, vergewisserte sich Ole mit ausgesuchter Höflichkeit.
»J… j… ja, schon, a… aber«, stammelte Beate Gruber, sichtlich um Fassung ringend, sammelte sich dann und fragte schnippisch: »Aber ich sehe keinen Sinn darin, dass Sie mich auf einmal Lieber nennen? Wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte, bin ich verheiratet und trage den Namen meines Mannes.«
»Das will ich Ihnen gerne sagen, Frau Gruber .« Ole betonte ihren Name mit leichtem Spott. »Aber mir persönlich wäre es angenehmer, wenn wir das nicht vor Ihrer Haustüre diskutieren müssten. Und Ihr Herr Gatte würde es sicherlich auch nicht sonderlich schätzen, wenn die Polizei seine Frau vor seiner Haustüre vernähme. So mitten im Wahlkampf. Nicht auszudenken, wenn die Presse das mitbekäme.«
Beate Gruber wurde, wenn möglich, noch blasser und winkte Ole rasch zu sich ins Haus. »Bitte. Sie kennen ja den Weg«, sagte sie kühl und ließ ihn an sich vorbeigehen. Ole setzte sich auf die braune Nussbaumbank.
Diesmal bot sie ihm keinen Cappuccino an und auch kein Wasser.
»Also«, wiederholte Beate Gruber ihre Frage und Ole fand, dass sie etwas Oberlehrerhaftes hatte. »Warum nennen Sie mich plötzlich bei meinem Mädchennamen?« Sie setzte sich ihm gegenüber und sah ihn streng an.
»Nun«, Ole lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Sagen wir mal so: Ich habe mich etwas über Ihre durchaus sehr interessante Vergangenheit informiert.«
»Wie kommen Sie dazu?«, fauchte Beate Gruber. »Haben Sie nichts Besseres zu tun, als im Leben unbescholtener Bürger herumzustochern?«
»Das, meine liebe Frau Gruber, gehört nun mal zu meinem Beruf. Ich wäre ein schlechter Polizist, wenn ich es
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