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Vergissmichnicht

Vergissmichnicht

Titel: Vergissmichnicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva-Maria Bast
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ganz anders geworden, als die Alte vor einer Woche angerufen und mit ihrer kühlen, kultivierten Stimme »Carlo Bader« gesagt hatte. Nur diese beiden Worte hatte sie gesagt, mehr nicht, aber es war ganz klar eine Drohung gewesen. Und dass die Stimme der alten Meierle gehörte, das hatte er sofort erkannt. Bis in seine Träume hatte ihn diese Stimme schließlich verfolgt gehabt, als er noch ein junger Mann war, der der Mutter seiner Freundin unbedingt gefallen wollte. Doch sie hatte ihn immer abfällig behandelt und deutlich gemacht, dass ihre Christin etwas Besseres verdient hatte als ihn, Wolfgang, den Loser, den Versager. Das hatte ihn immer wütend gemacht und er hatte seine Wut an Christin ausgelassen. Die Angst in ihren Augen hatte dazu geführt, dass er sich mächtig vorkam, ja, einmal in seinem Leben war er stark. Er, der Sohn aus armem Haus. Seine Mutter war Putzfrau, sein Vater arbeitsloser Säufer. Geld war nie da gewesen und er, der jüngste von vier Söhnen, hatte immer die unmodernen, ausgebeulten Kleider seiner Brüder anziehen müssen. Gestunken hatte er auch, das wusste er, weil die ganze Wohnung stank. Nach altem, abgestandenem Fett und Sauerkraut. Entsprechend war er in der Schule, dem Gymnasium, das er nach langen Kämpfen mit seinem Vater und dank eines Lehrers, der sich sehr für ihn einsetzte, besuchte, gehänselt worden. Alle anderen trugen coole Klamotten, gingen auf Partys, hatten immer Geld für Bier in der Tasche. Er nicht. Er war der Doofi. Das Opfer. »Wolfi, du stinkst«, hatten sie immer gesagt und sich demonstrativ die Nase zugehalten, wenn er in ihre Nähe kam. Einen Banknachbarn hatte er nie gehabt. Einmal hatte der Lehrer einen Versuch gemacht, einen Klassenkameraden neben ihn zu setzen, aber der hatte sich strikt geweigert und gesagt: »Ne, Herr Lehrer, der Wolfi, der stinkt so, das halt ich nicht aus, da wird mir schlecht, ehrlich.«
    Wolfgang hatte voller Scham auf die Tischplatte vor sich gestarrt und die feine Maserung des alten Holzes überdeutlich wahrgenommen. Noch heute hallte die Antwort des Lehrers in seinem Kopf. »Du riechst wirklich etwas streng, Wolfgang. Du solltest mehr auf deine Körperhygiene achten.«
    Das waren die harmloseren Tage gewesen. An den schlimmeren spuckten die drei Jungs, die die Klasse anführten, auf den Boden und zwangen ihn, ihren Speichel aufzulecken. Sie zerrissen seine Hefte, beklecksten sie mit Tinte, nahmen ihm seinen Geldbeutel weg und warfen ihn hin und her. Und wenn er ihn zu fangen versuchte, lachten sie höhnisch. Dieses Gelächter verfolgte ihn bis heute in seinen Träumen. Er hatte sich nicht getraut, ihnen etwas entgegenzusetzen. Doch wenn er zu Hause war, dann kochten Wut und Selbstekel in ihm hoch. Es war wie ein Feuer und es drohte, ihn zu verbrennen. In seiner rasenden Wut drosch er auf alle ein, die schwächer waren als er. Das waren nicht viele. Der kleine Junge, der an der nächsten Straßenecke wohnte. Seine Mutter. Und Christin. Christin, das Mädchen aus gutem Hause, das selbstverständlich die Schlossschule Salem besuchte. Er lernte sie im Sommer im Überlinger Strandbad kennen, das er aufsuchte, weil er Angst hatte, im Konstanzer Bad von seinen Klassenkameraden gehänselt zu werden. Sie war genauso allein wie er. Die beiden wurden ein Paar und Christin sagte nie etwas über seinen Geruch, der im Sommer durch das häufige Baden im See auch weniger streng war, und sie sagte auch nichts über seine alten Kleider. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter. Die hatte ihn schon, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, mit hochgezogenen Augenbrauen und eisblauem Blick von oben bis unten streng gemustert und gefragt: »Und was, sagten Sie gleich, machen Ihre Eltern?« Dabei, das wusste er genau, hatte Christin ihr längst erzählt, wie es um seine Eltern stand. Wie hatte er sich unwohl gefühlt, damals, unter den Blicken der beiden Meierle-Frauen. Dem eisblauen der Mutter, so kalt, verurteilend und hart, und dem kornblumenblauen, angstvollen der Tochter. Christin kannte ihn und seine Wut damals genau, wie ein Tier, das Gefahr wittert, war sie in der Lage, seine Wut zu riechen, sie an den kleinsten Anzeichen abzusehen, spürte sie manchmal schon, bevor er wusste, dass sie ihn wieder überkommen würde, die rollende, rasende, rote Wut. Sie hatte geahnt, dass sie später für das abschätzige Verhalten ihrer Mutter würde zahlen müssen. Und sie hatte sich nicht getäuscht.
    Als er Christin kennenlernte, stand er kurz vor dem Abitur, das

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