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Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chico Buarque
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feierlichen Salons zu stromern. Ich genoss es, der Herr dieser noch unberührten Räume zu sein, wo nur ich mit meinem Schatten über den Marmor strich, vorbei an den wie Wachposten strammstehenden Kellnern. Dies aber sollte ein intimes Essen sein, ohne Fackeln und Kellner, denn Mama trug noch Trauer und hatte nur sehr widerstrebend eingewilligt, die Villa für einen einfachen Ingenieur zu öffnen. Ebenso kann ich mir vorstellen, welche Überwindung es sie gekostet hat, etliche Briefe an die Compagnie zu schreiben, bis sie ihrem Sohn die Stelle ihres verstorbenen Mannes verschafft hatte. Doch als der Wachmann das Tor öffnete, überraschte mich helle Beleuchtung in sämtlichen Fenstern, wie in einem Haus mit vielen Kindern. Da der Garten nicht beleuchtet war, schien die Villa in der Dunkelheit zu schweben, fast noch imposanter als zu Papas Zeiten. Vielleicht wollte Mama den Franzosen zu verstehen geben, dass das Haus der Assumpçãos ihnen keinerlei Gefallen schuldig sei. Sie saß am Klavier, seit ihrer Verwitwung spielte sie es lautlos, streifte die Tasten nur, um meinen Vater zu ehren und Chopin nicht zu vergessen. Sie begab sich mit Matilde und mir hinüber zum Louis-Quinze-Sofa, das dort im Musiksalon stand, und der Butler servierte uns Champagner und ihr das übliche Erfrischungsgetränk. Zwischen den beiden sitzend, hatte ich das Gefühl, etwas steif zu sein, das Louis-Quinze-Sofa war nicht bequem. Wir saßen eine Weile, ohne uns zu unterhalten, hörten nur das Pendel der großen Uhr und warteten darauf, dass Dubosc von seinem üblichen Cocktail in der französischen Botschaft kam. Mama liebte die Stille, und um sie zu betonen, kehrte sie schon bald zum Klavier zurück und nahm ihren stummen Walzer wieder auf. Doch als die Uhr zehn schlug, knallte sie den Deckel zu, klingelte mit einem Glöckchen nach dem Butler und ließ das Abendessen servieren. Matilde sprang mit einem Satz auf, wie es ihre Art war, und stellte sich vor mir in Positur, um bewundert zu werden, das sandfarbene Kleid auf ihrer sonnengetönten Haut. Es mag sein, dass ich sie dann mit dem Blick ausgezogen habe, wie man so sagt, doch in diesem Augenblick spielt mir meine Erinnerung einen Streich. Ich ziehe Matilde mit dem Blick aus, doch anstatt sie nackt zu sehen, sehe ich das Kleid ohne ihren Körper. Ich sehe mich an dem Kleid schnuppern, es von außen und von innen glattstreichen, es schütteln, um zu sehen, wie die Seide fällt, ich nehme es mit. Im Tausch gegen sechshundert
Milréis
nehme ich das Päckchen aus alten, mit Flecken übersäten Händen entgegen, und ich denke, das ist es, was ich im Sinn hatte. Ich bin bei den fleckigen Händen der Madame gelandet, von der mein Vater in meinem Beisein ein himmelblaues Kleid mit Glockenrock in derselben Woche gekauft hatte, in der er ermordet wurde. Damals hatte ich weniger auf das Kleid geachtet als darauf, wie mein Vater es anfasste, daran schnupperte, es ausführlich glattstrich, es hin und her schwenkte und als Geschenk einpacken ließ. Ich konnte nicht ahnen, dass dieses selbe Kleid am nächsten Abend auf dem letzten großen Fest in der Villa auftauchen würde. Ich erkannte es auch nicht unter den vielen anderen blauen Kleidern, als es direkt vor meiner Nase vorbeikam, an einer Frau, die am Arm ihres Mannes den Musiksalon betrat. Nur zufällig fiel mir die Frau auf, mit ihren sommersprossigen Schultern und braunen Haaren, ein ganzes Stück größer als ihr Mann. Das Paar ging auf meinen Vater zu, der mit einem Drink am Klavier lehnte, auf dem ein blinder Pianist einen Ragtime spielte. Ich sah, wie mein Vater der Frau die Hand küsste und dem Mann die Hand reichte, worauf dieser sich nach einem Kellner umsah. Und ich verstand nicht, warum die Frau in diesem Augenblick mit den Händen über ihren Körper strich und meinen Vater anlächelte, der sie sehr ernst ansah und gleich darauf den Blick abwandte. Erst heute, achtzig Jahre später, klingelt es wie eine Alarmglocke in meiner Erinnerung, als wäre Himmelblau die Farbe einer Tragödie, und ich erkenne an der Frau das Glockenrockkleid, das mein Vater am Tag zuvor gekauft hatte. Es ist dasselbe, gar keine Frage, ich könnte es sogar an der Innenseite erkennen, mein Vater hatte es von außen und von innen glattgestrichen, von vorn und von hinten, so wie die Frau es jetzt von oben nach unten glattstreicht. Und dann wirft der Mann kurz einen Blick auf sie, als sie meinem Vater zulächelt, der sie ansieht, die zu ihrem Mann sieht, der zu meinem

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