Verheißenes Land
seinem Wagen holte und die Figuren daraus zum Vorschein brachte. Sie hatte auf der Überfahrt nach Amerika schon verschiedene Schachspiele gesehen. Meist waren die Figuren aus Holz geschnitzt und zum Teil auch bunt angemalt gewesen. Die von Winston Talbot waren jedoch von grauer Farbe und sehr plump gearbeitet.
»Mein Gott, die sind ja schwer wie Blei!«, entfuhr es ihr verblüfft, als sie eine der Figuren in die Hand nahm.
Er lächelte. »Kein Wunder, denn sie sind ja auch aus Blei gegossen. Ich weiß, sie sind nicht sehr hübsch, aber dieses Schachspiel ist mir das Kostbarste, was ich besitze. Mein Vater besaß einst eine kleine Bleigießerei und hat es mir vererbt. Ich habe die Gießerei eine Zeit lang weitergeführt, bevor ich mich anderen Geschäften zugewandt habe, die meinem Naturell und meinen Fähigkeiten mehr entgegengekommen sind. Dieses Schachspiel ist das Einzige, was vom Geschäft meines Vaters noch übrig geblieben ist. Also dann, beginnen wir mit den Regeln und damit, welche Eigenschaften den verschiedenen Figuren zu eigen sind.«
Die Regeln des Schachspiels waren leichter zu merken, als Éanna erwartet hatte. Doch sie stellte schnell fest, dass das Spiel selbst noch lange nicht einfach, geschweige denn einfallslos war. Schnell begriff sie, dass die Zahl der möglichen Spielzüge fast unbegrenzt sein musste. Und ehe sie sich’s versah, hatte sie die Faszination des Schachspiels gepackt. Ihr war bislang noch nichts begegnet, was eine größere Herausforderung an ihren Geist gestellt hätte.
»Ich fürchte, ich ziehe mir mit dir einen Gegner heran, dem ich bald nicht mehr gewachsen sein werde«, lobte Winston sie, als es schließlich Zeit wurde, sich schlafen zu legen.
»Nun übertreibt Ihr aber gewaltig, Winston! Ich bin sicher, dass Ihr es mir leicht gemacht habt«, erwiderte sie, freute sich jedoch über sein Lob. »Vermutlich hättet Ihr mich jedes Mal schon nach wenigen Minuten schachmatt setzen können, wenn Ihr nur gewollt hättet.«
»Nun mach dich mal nicht schlechter, als du bist, Éanna. Du hast eine schnelle Auffassungsgabe und denkst bei deinen Zügen jetzt schon weiter als die meisten Anfänger, mit denen ich bisher am Brett gesessen habe«, versicherte er ihr und räumte die Figuren in die Holzschatulle. »Ich bin sicher, dass du es mir schon gegen Ende unserer Reise schwer machen wirst, deinen Fallen zu entkommen.«
»Na, da bin ich mir aber nicht so sicher«, wehrte sie lachend ab und dankte ihm für die schönen Stunden.
»Ach was, das Vergnügen war doch ganz meinerseits«, erwiderte er mit einem Lächeln.
Sie wollte sich schon auf den Weg zu ihrem Wagen machen, als ihr Blick auf die Kochkiste fiel, und ihr kam ein neuer Gedanke. »Winston, was haltet Ihr davon, wenn Ihr und Euer Russe fortan die Mahlzeiten bei mir und meinen Freunden einnehmt?«, schlug sie ihm vor.
Winston machte ein verblüfftes Gesicht. »Nein, das geht nicht! Das können wir unmöglich annehmen!«
»Warum denn nicht? Wenn ich demnächst daran denke, was für einen grässlichen Fraß Ihr morgens und abends hinunterwürgen müsst, wird es mir auch nicht mehr schmecken.«
»Das ist lieb von dir gemeint, Éanna. Aber ich kann dir und deinen Freunden auf gar keinen Fall noch mehr Arbeit aufbürden, als ihr sowieso schon habt. Ihr habt mit euch selbst genug zu tun, das weiß ich doch.«
»Ich habe ja nicht gesagt, dass Ihr die Hände in den Schoß legen und Euch von unseren Vorräten bekochen lassen sollt«, erwiderte Éanna. »Aber wenn Ihr Euren Proviant mit an unser Kochfeuer bringt, ist doch keinem geschadet. Wir kochen einfach größere Portionen. Und für zwei Personen mehr Kaffee aufzubrühen oder Maisfladen zu backen, macht wirklich keinen großen Unterschied. Ihr könnt in der Zeit ja anderweitig ein wenig mit anpacken.«
»Das würden wir gewiss gern tun und Proviant haben wir mehr als reichlich mitgenommen. Aber meinst du denn, dass auch deine Gefährten mit diesem Arrangement einverstanden sind?«, fragte Winston und seine Miene verriet, wie verlockend der Vorschlag für ihn war.
»Bestimmt!«, versprach sie zuversichtlich und streckte die Hand aus. »Also, dann ist das abgemacht, einverstanden?«
Die Augen von Winston Talbot strahlten hinter den runden Gläsern seiner Nickelbrille und er ergriff ihre Hand. »Du hast wirklich ein Herz aus Gold, mein Kind!«
Sie lachte verlegen. »Ach, so eine große Sache ist das wirklich nicht. Dafür seid Ihr mir jetzt ein paar Spiele schuldig, die Ihr
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