Verheißenes Land
kaum Worte und dennoch fühlte sie die Verbundenheit, die zwischen ihnen herrschte. Und sie ertappte sich trotz des Sturms bei dem Wunsch, dass ihre gemeinsame Arbeit so schnell nicht enden möge.
Als die vier Wagen endlich so gut es eben ging vor dem Toben des Sturms gesichert waren und die Seligmann-Kinder eiligst zurück in die Prärieschoner kletterten, blickte Patrick gen Himmel und rief fasziniert: »Ist das nicht ein gewaltiges Schauspiel der Natur?«
»Ich würde es eher Furcht einflößend nennen«, erwiderte Éanna und drehte sich schnell wieder mit dem Rücken zu Wind und Regen. Sie musste sich regelrecht dagegenstemmen, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Eigentlich hatte sie noch nach Winston Talbot sehen und ihm helfen wollen. Aber sie konnte sich einfach nicht von Patrick trennen. In den Wochen des Trecks hatte er zwar immer wieder ihre Nähe gesucht und mit ihr gesprochen, aber sie waren dabei nie außer Hörweite von Brendan, Emily oder Liam gewesen. Wie sehr hatte sie es vermisst, ganz ungestört Zeit mit ihm zu verbringen.
»Ja, es kann einem schon angst und bange werden, wenn man fast ungeschützt den Naturgewalten ausgesetzt ist«, räumte er ein. »Aber zu dieser Furcht gehört doch auch immer ein andächtiges Staunen. Jedenfalls geht es mir so.«
Éanna schüttelte den Kopf. »Wenn ich staunen muss, dann meist über das, was dir manchmal so durch den Kopf geht, Patrick!«
Er lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Wann nehmen wir uns denn schon mal die Zeit, uns Gedanken darüber zu machen, welch riesige Kräfte in der Natur herrschen? Ich finde, jetzt ist so ein Moment, der geradezu danach verlangt. Er führt einem überdeutlich vor Augen, wie klein der Mensch in der wilden Natur doch ist und wie wenig Kontrolle er über die atemberaubenden Wunder der Schöpfung hat.«
»Das ist wahr.«
»Den meisten Menschen ist es allein wichtig, wie viel Lebenszeit ihnen vergönnt ist«, sagte Patrick und blickte nach Nordwesten, wo eine unablässige Kette von Blitzen den Himmel aufriss und ihr gleißendes Licht über die Prärie warf. »Aber ich finde es bedeutend wichtiger, wie oft es einem den Atem vor Staunen und Glück verschlägt! Und wenn du noch so lange lebst, was nutzt es dir, wenn du dein Dasein nicht genießen kannst?«
Verblüfft und zugleich eigenartig berührt sah sie ihn an. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, gestand sie.
»Es lohnt sich, es zu tun, Éanna. Wir haben nur dieses eine Leben und seine Dauer ist ungewiss. Wenn man nicht aufpasst, wie man sich darin einrichtet …«
Weiter kam er nicht. Denn in diesem Moment drehte der Wind und eine heftige Böe traf Éanna unerwartet von der Seite, brachte sie aus dem Gleichgewicht und hätte sie um ein Haar zu Fall gebracht, wenn Patrick sie nicht gerade noch rechtzeitig zu fassen bekommen hätte.
Éanna stürzte förmlich in seine Arme, die sich sofort schützend um sie schlossen. Für einige Sekunden lag sie fest an seine Brust gedrückt. Dann spürte sie seine Hand, die zärtlich über ihr triefnasses Haar strich, und hörte ihn sagen: »Es gibt nicht viel, was mir in meinem Leben bislang den Atem verschlagen hat. Du tust es jedoch immer wieder aufs Neue, Éanna.«
Éanna schauderte. Wie ungewohnt es war, in Patricks Armen zu liegen, und wie vertraut es sich zugleich anfühlte! Sturm und Nässe konnten ihr nichts anhaben, so sicher war sie bei ihm geborgen. Tief sog sie seinen Geruch ein und schloss die Augen. Doch obwohl sie in diesem Moment nichts sehnlicher wünschte, als für immer so stehen zu bleiben, drangen nach und nach wieder die aufgeregten Stimmen der Overlander an ihr Ohr, die noch stets gegen das Gewitter ankämpften.
»Nicht, Patrick!«, stieß sie hervor und befreite sich hastig aus seiner Umarmung, bevor er noch mehr von seinen Gefühlen für sie preisgeben konnte. Sie fuhr sich über das Gesicht, um wieder zur Besinnung zu kommen. »Ich muss jetzt schnellstens zu Mister Talbot! Er und sein Dienstmann brauchen sicherlich ebenfalls Hilfe.« Und bevor Patrick noch etwas sagen oder versuchen konnte, sie zurückzuhalten, stürzte sie gehetzt davon.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Die beiden Schüsse der letzten Nachtwache krachten und das Camp erwachte widerwillig aus dem Schlaf. Mit schmerzenden Gliedern und vom Regen noch immer feuchter Kleidung krochen die Overlander aus ihren Wagen, in denen es in dieser Nacht fast überall äußerst gedrängt zugegangen war. Denn das schwere Unwetter hatte es
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