Verheißenes Land
sagte Patrick. »Ich mag Winston. Er hat immer ein freundliches Wort übrig und ein Herz für die Kinder. Und ich habe ihn noch nie fluchen oder die Nerven verlieren sehen. Er mag zwar schmächtiger sein als die meisten anderen Männer auf dem Trail, aber Entschlossenheit und Zähigkeit zählen hier mindestens genauso viel wie reine Muskelkraft.«
»Und von beidem hat er mehr als genug«, stimmte Éanna ihm zu. »Er hat mir erzählt, dass er auf die Goldfelder will. Und sowie er genug Startkapital hat, wird er nach San Francisco gehen und dort ein eigenes Geschäft eröffnen. Und weißt du, womit er handeln will?«
»Keine Ahnung. Mit Papier und Schreibwaren? Als so einen Krämer könnte ich ihn mir jedenfalls gut vorstellen.«
»Nein, mit Kerzen und Leuchten aller Art«, teilte sie ihm mit. »Er hat gesagt, seine Kindheit und Jugend wäre in jeder Hinsicht eine schrecklich dunkle Zeit gewesen, sodass er nun nicht genug vom Licht bekommen könne. Darum liebt er ja auch das gleißende Helle und den unermesslich hohen Himmel über der Prärie.«
Verwundert ließ er seinen Blick schweifen. »Es gibt auf dieser Welt wirklich nichts, was es nicht gibt! Aber dem Himmel sei Dank dafür, dass jeder von uns andere Leidenschaften hat, die ihm Erfüllung bringen.«
Leidenschaften waren ein gefährliches Wort und Éanna suchte rasch nach einem anderen Gesprächsthema. »Du hast uns noch immer nicht erzählt, wie dir die Flucht von dem Segelschiff gelungen ist!«
»Ich hatte eigentlich fest vor, es dir und deinen Gefährten zu erzählen. Aber bisher hat sich einfach keine Gelegenheit dazu ergeben. Nun, vielleicht ist es besser, dass ich noch nicht dazu gekommen bin, meine Geschichte in eurer Runde zum Besten zu geben.«
»Wieso?«, fragte Éanna verwundert.
Er zögerte kurz. »Weil es den einen oder anderen möglicherweise langweilt. Man muss Menschen, die einem nicht so nahestehen, ja auch nicht alles auf die Nase binden.«
Éanna spürte, dass dies eine Ausrede war und er einen anderen Grund haben musste, warum er nicht vor Brendan darüber reden wollte. Denn nur den konnte er mit »dem einen oder anderen« gemeint haben. Emily und Liam hätten sich seine Geschichte doch zweifellos sehr gern angehört. Aber sie hielt es für klüger, nicht nachzuhaken.
»Wirst du sie denn mir erzählen?«, fragte sie.
»Mit Vergnügen, obwohl sie leider wenig vergnüglich ist«, sagte er und begann seinen langen Bericht darüber, wie er Samuel an Bord der Sarah Lee kennengelernt und zum Freund gewonnen hatte. Dabei verschwieg er jedoch, dass man ihn gleich in der ersten Stunde seiner Gefangenschaft auf dem Schiff auf das Gitterrost gebunden und ausgepeitscht hatte. Dieses grässliche Detail wollte er ihr ersparen. Aufmerksam und mehr als einmal mit Schaudern über die Gefahren, die er bei seiner Flucht und auf seinem Marsch durch Wälder und flaches Land erlebt hatte, hörte sie ihm zu.
»Ich bin immer ein Gegner der Sklaverei gewesen. Kein aufrechter Mensch und schon gar kein Christ kann diese abscheuliche Ausbeutung tolerieren«, sagte er zum Schluss. »Doch wenn ich es nicht schon gewesen wäre, hätten mich meine Erlebnisse mit Samuel und den beiden Schwarzen, die mir im Wald begegnet sind, sicherlich dazu bekehrt. Denn wenn sie nicht gewesen wären, hätte ich es nie und nimmer geschafft, noch rechtzeitig nach Independence zu kommen, sondern wäre jetzt wohl noch immer auf der Sarah Lee oder irgendwo zwischen Savanna und New York.«
»Aber musstest du dich denn wirklich einer solch tödlichen Gefahr aussetzen und auf hoher See von Bord springen?«, fragte Éanna, noch im Nachhinein entsetzt darüber, dass er dieses Wagnis eingegangen war. »Du hättest leicht ertrinken können.«
»Ja, das musste ich«, sagte er leise. »Denn ich wollte … nein, ich musste dich einfach wiedersehen. Und wenn ich ertrunken wäre, dann …«, er zögerte kurz, ». . . dann wäre es auf eine Art auch eine Erlösung gewesen.«
Éanna hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Bitte sag so etwas nicht«, erwiderte sie mit erstickter Stimme. »Ich möchte, dass du lebst und dass du glücklich bist und eines Tages ein berühmter Schriftsteller wirst!«
»Wie kann ich denn ohne dich glücklich werden?«, fragte er und zwang sich zu einem spöttischen Lächeln. Doch seine traurigen Augen verrieten, dass er es ernst meinte. »Und berühmt werde ich gewiss nie. Ich bin nun mal kein Romanautor, der die Massen mit seinen Geschichten begeistern könnte.
Weitere Kostenlose Bücher