Verheißung Der Nacht
ihre Unerfah renheit gezeigt hatte, sie Hass te sich, weil sie wie ein verängstigter Hase vor ihm davongelaufen war. Sie Hass te ihn, weil er ihr die Fassung geraubt hatte. Doch am meisten Hass te sie ihn, weil er ihre phantasievollen Träume zerstört hatte.
Reid erinnerte sich daran, seine Worte bewiesen es ihr. Selbst jetzt war ihr der Gedanke daran unangenehm. Irgendwo in ihrem Inneren lebte die Erinnerung an die Bestürzung und die Erniedrigung dieses Tages noch immer fort.
Bedauerte er wirklich, sie vor all diesen Jahren geküsst zu haben? Aber warum? Vielleicht war es für einen jungen Mann auf der Höhe seiner sexuellen Energie ein ganz natürlicher Impuls gewesen. Schließlich war sie diejenige, die eine Szene gemacht hatte, die die ganze Episode zur Tragödie hochgespielt hatte.
Bisher hatte sie nie die Möglichkeit gehabt herauszufinden, was Reid damals gefühlt hatte. Er war kurz darauf in die Armee eingetreten, sie hatte gehört, dass er sich als Ranger qualifiziert hatte, als Mitglied der Elitetruppe der beinahe übermenschlichen Soldaten, deren Aufgabe es war, die Reihen der Feinde zu infiltrieren, noch ehe das Heer zuschlagen konnte. Später hatte es Gerüchte gegeben, dass er für den CIA arbeitete, in einer geheimen Operation in Zentralamerika und dann im Mittleren Osten. Vor ein paar Wochen war Reids Vater gestorben, und er war nach Hause zurückgekommen.
Cammie war so mit den Gedanken an die Vergangenheit beschäftigt gewesen, dass sie den Lichtschimmer zwischen den Bäumen nicht bemerkt hatte. Erst als sie nahe genug waren, erkannte sie, dass es die erleuchteten Fenster eines Hauses waren. Sie blieb stehen, der Regen lief ihr über das Gesicht, perlte ab auf dem Poncho, den sie noch immer trug.
Als Reid sich zu ihr umwandte, sah sie ihn vorwurfsvoll an. »Das ist nicht mein Wagen.«
»Das Haus war näher.« Seine Worte klangen ein wenig ungeduldig, als hätte er erwartet, dass sie protestieren würde. Dennoch schien es ihn zu stören.
»Ich kann nicht in dieses Haus gehen.«
»Mach dich doch nicht lächerlich. Du brauchst dringend trockene Kleidung und etwas Heißes zu trinken. Ich verspreche dir, ich werde dich nicht belästigen.«
»Das habe ich auch nicht angenommen!« Ärger und ein Anflug von Verlegenheit schwangen in ihrer Stimme mit.
»Nicht? Das erstaunt mich. Was hast du denn erwartet? Es ist doch nur ein Haus, es wird dich schon nicht verseuchen.«
Es war nicht nur ein Haus. Lavinia Greenley, so wurde erzählt, war in diesem Haus verführt worden. Seit dieser Zeit hatte nie wieder ein Greenley einen Fuß in dieses Haus gesetzt.
Es war ein rechteckiges, zweistöckiges Gebäude, ganz aus Baumstämmen gefertigt, mit einem ausgebauten Dachboden. Jeder dieser großen Stämme war mehr als einen Fuß dick. An beiden Seiten des Hauses war ein Kamin aus handgefertigten Ziegeln angebaut, die hohen, schmalen Fenster konnten von innen mit festen Läden verschlossen werden. Mit schmalen Dachrinnen und einer geraden Front - ohne Veranda oder den säulenüberdachten Eingang der Häuser weiter im Norden - erweckte das Haus den Eindruck, dass es gegen alle Eindringlinge verteidigt werden konnte.
Das Haus war in den frühen neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Justin Sayers gebaut worden. Er hatte darin gelebt wie ein Einsiedler, hinter einem acht Fuß hohen Staketenzaun aus Baumstämmen. Dieser Zaun war nach und nach zusammengefallen, vor Jahren schon hatte man die Überreste weggeräumt, doch für die Leute aus der Stadt Greenley hieß dieses Haus nur das Fort.
Jeder einzelne Baumstamm, den Justin Sayers für dieses Haus gebraucht hatte, war vom Land Lavinia Greenleys gestohlen worden. Jedes Brett in dem Haus hatte er in der Sägemühle zugeschnitten, die er ein paar Meilen weiter aufgebaut hatte.
Die Sägemühle war ungeheuer ertragreich gewesen und hatte ihn zu einem reichen Mann gemacht. Doch ein paar Jahre nach Beginn des neuen Jahrhunderts hatte Justin einen Partner in sein Geschäft aufgenommen, einen Mann namens Hutton. Hutton hatte im Norden in einer Papierfabrik gearbeitet, er kannte diesen neu aufblühenden Wirtschaftszweig. Sayers besaß das Land, das Holz, den finanziellen Rückhalt und die Kontakte. Die beiden Männer kauften die Maschinen, und das Sägewerk wurde durch die Papierfabrik ersetzt.
Die Papierfabrik, die sich mittlerweile stark vergrößert hatte, existierte noch immer am Rande der Stadt, sie gehörte inzwischen den Nachkommen der Sayers und der
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